Читать онлайн книгу "Das Perfekte Alibi"

Das Perfekte Alibi
Blake Pierce


Ein spannender Psychothriller mit Jessie Hunt #8
„Ein Meisterwerk der Thriller und Mystery-Romane. Blake Pierce hat hervorragende Arbeit geleistet, indem er Charaktere entwickelt hat, die so gut beschrieben sind, dass wir uns in ihren Köpfen fühlen, ihren Ängsten folgen und ihren Erfolg herbeiwünschen. Dieses Buch garantiert Ihnen aufgrund der vielen Wendungen Spannung bis zur letzten Seite." . –Bücher und Filmkritiken, Roberto Mattos (Verschwunden). DAS PERFEKTE ALIBI ist Buch Nr. 8 in einer neuen Psychothriller-Reihe des Bestsellerautors Blake Pierce, die mit Die Perfekte Frau beginnt, einem Nr. 1 Bestseller mit fast 500 Fünf-Sterne-Rezensionen (und kostenlosem Download). . Eine Hausfrau und Mutter entkommt den Fängen eines psychotischen Serienmörders – um dann Wochen später ermordet aufgefunden zu werden… War es Zufall?. Oder gibt es da draußen einen Serienmörder, der ein krankes Katz- und Maus-Spiel spielt?. Kann die berühmte FBI-Agentin Jessie Hunt, 29, ihr persönliches Trauma überwinden und in die Gedanken dieses Mörders eindringen? Kann sie das nächste Opfer – und vielleicht sogar sich selbst – retten, bevor es zu spät ist?. DAS PERFEKTE ALIBI ist ein mitreißender Psychothriller mit unvergesslichen Charakteren und dramatischer Spannung. Es ist Buch Nr. 8 in einer fesselnden neuen Reihe, die Ihnen schlaflose Nächte bescheren wird..





Blake Pierce

DAS PERFEKTE ALIBI




d a sВ В  p e r f e k t eВ В  a l i b i




(ein spannender psychothriller mit jessie hunt – band acht)




b l a k eВ В  p i e r c e



Blake Pierce

Blake Pierce ist der USA Today Bestseller-Autor der RILEY PAGE Mystery-Serie, die sechzehn BГјcher (und es werden noch mehr) umfasst. Blake Pierce ist auch der Autor der Mystery-Serie MACKENZIE WHITE, die dreizehn BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Mystery-Serie AVERY BLACK, die sechs BГјcher umfasst; der Mystery-Serie KERI LOCKE, die fГјnf BГјcher umfasst; der Mystery-Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Mystery-Serie KATE WISE, die sechs BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe CHLOE FINE, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe JESSE HUNT, die fГјnf BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der psychologischen Krimireihe AU PAIR, die zwei BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der Krimireihe ZOE PRIME, die zwei BГјcher umfasst (Tendenz steigend); der neuen Krimireihe ADELE SHARP; sowie der neuen und heimeligen Mystery-Serie EUROPEAN VOYAGE.



Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt es Blake, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com/), um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.



Copyright © 2020 by Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Vorbehaltlich der Bestimmungen des U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieser Publikation ohne vorherige Genehmigung des Autors in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit einer anderen Person teilen möchten, kaufen Sie bitte für jeden Empfänger ein zusätzliches Exemplar. Wenn Sie dieses Buch lesen und Sie es nicht gekauft haben, oder es nicht nur für Ihren Gebrauch gekauft wurde, dann senden Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind entweder das Ergebnis der Phantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, ob lebendig oder tot, ist völlig zufällig. Jacket image Copyright Abie Aguiar, verwendet unter der Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON BLAKE PIERCE




ADELE SHARP MYSTERY-SERIE

NICHTS ALS STERBEN (Buch #1)

NICHTS ALS RENNEN (Buch #2)

NICHTS ALS VERSTECKEN (Buch #3)


DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORГњBER (Band #1)

SO GUT WIE VERLOREN (Band #2)

SO GUT WIE TOT (Band #3)


ZOE PRIME KRIMIREIHE

GESICHT DES TODES (Band #1)

GESICHT DES MORDES (Band #2)

GESICHT DER ANGST (Band #3)


JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (Band #1)

DER PERFEKTE BLOCK (Band #2)

DAS PERFEKTE HAUS (Band #3)

DAS PERFEKTE LГ„CHELN (Band #4)

DIE PERFEKTE LГњGE (Band #5)

DER PERFEKTE LOOK (Band #6)

DIE PERFEKTE AFFГ„RE (Band #7)

DAS PERFEKTE ALIBI (Band #8)

DIE PERFEKTE NACHBARIN (Band #9)


CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (Band #1)

DIE LГњGE EINES NACHBARN (Band #2)

SACKGASSE (Band #3)

STUMMER NACHBAR (Band #4)

HEIMKEHR (Band #5)

GETГ–NTE FENSTER (Band #6)


KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WГњSSTE (Band #1)

WENN SIE SГ„HE (Band #2)

WENN SIE RENNEN WГњRDE (Band #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WГњRDE (Band #4)

WENN SIE FLIEHEN WГњRDE (Band #5)

WENN SIE FГњRCHTETE (Band #6)

WENN SIE HГ–RTE (Band #7)


DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (Band #1)

WARTET (Band #2)

LOCKT (Band #3)

NIMMT (Band #4)

LAUERT (Band #5)

TГ–TET (Band #6)


RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

VERFOLGT (Band #9)

VERLOREN (Band #10)

BEGRABEN (Band #11)

ГњBERFAHREN (Band #12)

GEFANGEN (Band #13)

RUHEND (Band #14)

GEMIEDEN (Band #15)

VERMISST (Band #16)

AUSERWГ„HLT (Band #17)


EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE


EINST GELГ–ST




MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

EHE ER FГњHLT (Band #6)

EHE ER SГњNDIGT (Band #7)

BEVOR ER JAGT (Band #8)

VORHER PLГњNDERT ER (Band #9)

VORHER SEHNT ER SICH (Band #10)

VORHER VERFГ„LLT ER (Band #11)

VORHER NEIDET ER (Band #12)

VORHER STELLT ER IHNEN NACH (Band #13)

VORHER SCHADET ER (Band #14)


AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (Band #1)

LAUF (Band #2)

VERBORGEN (Band #3)

GRГњNDE DER ANGST (Band #4)

RETTE MICH (Band #5)

ANGST (Band #6)


KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)




KAPITEL EINS


Caroline Gidley kauerte sich zusammen, um sich selbst zu wärmen. Obwohl der Frühling schon fast vorbei war, wurde es nachts kühl, besonders unter ihren Umständen.

Es war verrückt, dass sie sie auch nur als "Umstände" betrachten konnte. Aber nach vier Tagen, gefesselt in einem Hundezwinger, nur mit BH und Höschen bekleidet und mit nur einer dünnen Decke zugedeckt, war dies irgendwie zu ihrer neuen Normalität geworden.

Es hatte so harmlos begonnen. Sie war nach der Arbeit zu ihrem Auto gegangen, als ein Mann sie nach dem Weg zur Autobahn fragte. Sie standen auf einem belebten öffentlichen Parkplatz, und er war so bescheiden und zögerlich, als er sich näherte, dass ihre anfängliche Vorsicht schnell verflog. Sie begann zu antworten, drehte sich um und zeigte nach Osten.

Bevor sie Гјberhaupt merkte, dass es geschah, legte er ihr ein dickes Tuch Гјber Mund und Nase. Als sie das Bewusstsein verlor, sah sie, wie er den Kofferraum des Autos neben ihrem Г¶ffnete. Sie hatte einen letzten Gedanken, als er sie in den Kofferraum steckte und den Deckel zuknallte.

Er hatte direkt neben ihr geparkt. Er hatte es geplant.

Als sie aufwachte, lag sie nur in ihrer Unterwäsche bekleidet in dem Zwinger, die Hände vor sich durch ein enges, dünnes Bungee-Seil zusammengebunden. Sie hatte sich umgesehen und schnell festgestellt, dass sie in einer Art baufälligem Gebäude festgehalten wurde. Lose Drähte hingen von der Decke und einige Fenster waren zerbrochen. Es gab keine Innenbeleuchtung, und das nachlassende Sonnenlicht deutete darauf hin, dass es mehrere Stunden her war, dass sie entführt worden war.

Fast aufs Stichwort war der Mann durch eine dicke Metalltür hereingekommen. Ihr Herz begann fast hörbar zu klopfen. Sie konnte ihre eigene Angst riechen. Sie versuchte, sie zu unterdrücken und sich auf ihren Entführer zu konzentrieren.

Als er näherkam, hatte sie einige Dinge bemerkt, die sie bei dieser ersten, kurzen Begegnung übersehen hatte. Er trug eindeutig eine Perücke. Sein dickes, dunkles Haar erinnerte Caroline an einen Heavy-Metal-Rocker der 1980er Jahre. Auch sein wilder Bart war offensichtlich nicht echt. Ebenso wie die große Nase in der Mitte seines Gesichts. Sie bezweifelte, dass er die dick umrandete, getönte Brille, die er trug, überhaupt benötigte.

Als er näherkam, lächelte er, und sie bemerkte, dass er auch falsche Zähne trug. Sein Aussehen war so übertrieben, dass sie vermutete, es sehe absichtlich lächerlich aus.

„Hallo, Caroline", hatte er gesagt und mit einem leichten Lispeln gesprochen, von dem sie annahm, dass es an den Zähnen lag. „Dies ist das einzige Mal, das du mich sehen wirst. Von nun an werden dir die Augen verbunden sein. Ich habe dich nicht geknebelt, aber ich werde es tun, wenn ich muss. Wenn du versuchen solltest, die Augenbinde abzunehmen, werde ich dir die Hände hinter dem Rücken anstatt vor dem Rücken zusammenbinden. Wenn du versuchst zu fliehen, werde ich dir… wehtun müssen. Das will ich nicht."

„Warum tun Sie das?", hatte sie gefragt und versucht, ihre Stimme davon abzuhalten, ihre Angst zu verraten.

„Du würdest es nicht verstehen. Menschen wie du verstehen das nie."

Dann hatte er etwas hinter seinem RГјcken hervorgeholt. Es war eine Art Pfeilschusswaffe.

„Bitte", hatte sie mit brüchiger Stimme gebettelt. „Sie müssen das nicht tun."

„Denk an die Regeln", hatte er ihr unnachgiebig gesagt. „Befolge sie, und es wird viel besser für dich laufen."

Ohne ein weiteres Wort hatte er die Waffe abgefeuert. Caroline fГјhlte ein scharfes Stechen im linken Oberschenkel. Dann fГјhlte sich alles schwer an. Ihre Augen schlossen sich, und wieder wurde die Welt schwarz.

Als sie das nächste Mal aufwachte, waren ihre Augen verbunden – wie er es ihr angekündigt hatte. Die anfängliche Welle der Panik, die sie in diesen ersten Stunden verspürte, wich schließlich der Hoffnung, als sie versuchte, alle möglichen Informationen zu sammeln. Sie verfolgte die Zeit anhand der Zeiten, zu denen er ihr die Mahlzeiten brachte, anhand der relativen Wärme im Gebäude und anhand der Lichtblitze, die durch die Augenbinde zu sehen waren.

In regelmäßigen Abständen kehrte er zurück, seine Schuhe hallten auf dem Betonboden des leeren Raumes wider. Egal, wie sehr sie versuchte, dagegen anzukämpfen, das Geräusch ließ sie hyperventilieren. Sie hörte, wie er das Vorhängeschloss des Zwingers entriegelte, die Sperrstangen aufschob, die metallene Tür öffnete und zwei Schüsseln auf den Boden fallen ließ. Da ihre Handgelenke gefesselt waren, musste Caroline das Futter und Wasser wie ein richtiger Hund zu sich nehmen.

Er ließ sie nie ein richtiges Badezimmer benutzen. Stattdessen musste sie ihre Unterwäsche ausziehen und in eine Ecke des Zwingers gehen. Von Zeit zu Zeit betrat er den Raum und spritzte sie und den Boden ab. Dann ging er wieder. Nach dem ersten Tag lernte sie, dass es das Beste war, ihre Unterwäsche und ihre Decke in die Löcher des Zwingers über ihr zu schieben, damit sie nicht so nass wurden, wenn sie vom Wasserstrahl getroffen wurde.

Die Routine wurde so regelmäßig, dass jede Abweichung davon Anlass zur Sorge gab. Zu einer Mahlzeit brachte er ihr lediglich eine Schüssel und erklärte ihr, dass es alle ihre Bedürfnisse erfülle, da es sich um Eintopf handelte. Ein anderes Mal wachte sie mit der Gewissheit auf, dass es am Morgen war, doch er kam erst mittags, so dass sie befürchtete, er habe sie völlig im Stich gelassen.

Manchmal fragte sie sich, ob andere sie auch im Stich gelassen hatten. Wussten ihre Freunde und ihre Familie, dass sie vermisst wurde? Wenn ja, hatten sie es der Polizei gesagt? Hatte jemand nach ihr gesucht?

Aber gerade in dieser kühlen Spätfrühlingsnacht, als sie versuchte, ihre jämmerliche Decke davon abzuhalten, ihr vom Rücken zu rutschen, indem sie sich gegen die Wand drückte, und als sie die Innenseiten ihrer Oberschenkel gegen ihre Arme drückte, um nicht zu zittern, bemerkte sie eine weitere Unterbrechung der Routine.

Als er sie verlassen hatte, nachdem er ihr Abendessen mit Wasser und schwarzen Bohnen aus der Dose gebracht hatte, hatte sie das vertraute Geräusch des Mannes, der den Zwinger abschließt, nicht mehr gehört. Er hatte die Sperrstangen an ihren Platz geschoben, hatte aber gleich danach einen Anruf auf seinem Mobiltelefon erhalten. Als er ging, um den Anruf entgegenzunehmen, ließ er die Tür des Zwingers unverschlossen.

Caroline wartete darauf, dass er zurückkommen und abschließen würde. Aber nach einer Zeit, die sie auf eine Stunde schätzte, wurde ihr klar, dass er nicht zurückkommen würde. Sie war sich sicher, dass er eine Kamera auf sie gerichtet hatte, daher war sie besonders vorsichtig, als sie die Augenbinde leicht herunterzog und sich umsah.

Es war dunkel. Das einzige Licht kam von dem Halbmond, der durch die zerbrochenen Fenster hindurch strahlte. In der Dämmerung sah sie keine Überwachungskamera, aber das bedeutete nicht, dass keine da war.

So unauffällig wie möglich blickte sie zu der Stelle, an der das Vorhängeschloss an der oberen Sperrstange sein sollte. Es war da, aber es war tatsächlich nicht verschlossen worden und baumelte von der Stange herunter. Soweit sie es beurteilen konnte, brauchte sie nur das Schloss abzuschlagen und die Stange zur Seite zu schieben, um aus dem Zwinger zu entkommen.

Caroline saß ruhig da und überlegte, wie es weitergehen sollte. Falls sie jemals versuchen sollte, zu entkommen, war dies der perfekte Zeitpunkt. Wenn ihre vorherigen Nächte hier irgendeine Art von Routine waren, würde der Mann nicht vor dem Morgen zurückkehren. Das würde ihr Stunden geben, um zu versuchen, zu flüchten und hoffentlich Hilfe zu finden. Wenn sie etwas unternehmen wollte, war jetzt der richtige Zeitpunkt.

Ihre Gedanken drehten sich darum, was mit ihr geschehen würde, wenn sie nichts unternehmen würde. Der Mann, der sie festhielt, hatte eindeutig die Absicht, sie zu töten. Es war nur eine Frage der Zeit. Wie viele Tage würde er sie noch in einem Zwinger halten, sie aus einem Hundenapf fressen lassen und abspritzen, bevor er sich langweilen und sich etwas Aufregenderem zuwenden würde? Würde sie wirklich zusammengekauert darauf warten, dass es passieren würde?

Noch bevor sie die Entscheidung bewusst getroffen hatte, steckte sie ihre Finger durch die Stäbe des Zwingers und versuchte, das Vorhängeschloss zu erreichen und es zu entfernen. Sie waren gefühllos, weil sie so lange nicht gebraucht worden waren und die Seile um ihre Handgelenke herum sie einschränkten. Schließlich schaffte sie es aber, das Vorhängeschloss zu greifen und zu entfernen. Dann griff sie nach der obersten Stange und schob sie nach rechts. Dasselbe tat sie mit der unteren. Dann drückte sie dagegen. Die Tür knarrte auf. Eine Sekunde lang saß sie wie erstarrt und verängstigt da. Dann kroch sie hinaus.

Zum ersten Mal seit Tagen aufrecht zu stehen, war schmerzhaft und schwierig. Caroline stieß sich mit ihren gefühllosen Handflächen vom Boden ab. Als sie sich unsicher zu ihren Füßen erhob, spürte sie, wie sich die Muskeln in ihren Oberschenkeln und Waden verkrampften. Es dauerte fast eine Minute, bis sie sich sicher fühlte und schließlich einen Schritt machte. Als sie sich sicher war, dass sie nicht zusammenbrechen würde, machte sie sich auf den Weg zu der Tür, durch die sie den Mann in der ersten Nacht hatte eintreten sehen. Sie drückte dagegen, aber sie war von außen verschlossen.

Sie sah sich um, als sie die Augenbinde vollständig abnahm. Es gab keine anderen sichtbaren Türen. Dann fiel ihr Blick auf eines der zerbrochenen Fenster. Es war zu hoch, um hinauszuklettern, und sie war nicht in der körperlichen Verfassung, einen Sprung mit Anlauf zu machen. Sie suchte den Raum nach einem Stuhl ab, aber es gab keinen. Aber es gab den Zwinger.

Mit ihrer wenigen Kraft zog Caroline ihn hinüber, so dass er knapp unter dem Fenster stand. An den Rändern der Fensterbank lagen Scherben, die sie mit ihren Ellenbogen beiseiteschob. Dann kletterte sie auf den Zwinger und betete, dass er ihr Gewicht tragen würde. Er blieb stabil.

Da sie sich mit ihren gefesselten Händen nicht abstützen konnte, lehnte sie sich über das Fenster hinaus und legte ihre Unterarme auf die Fensterbank. Als sie sich nach unten beugte, spürte sie, wie sich ein paar verbliebene Glasscherben in ihre Haut bohrten. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren und konzentrierte sich stattdessen darauf, wie weit der Boden entfernt war. Im dumpfen Mondlicht vermutete sie, dass es etwa zwei Meter waren.

Sie hatte keine Wahl. Also stГјtzte sie ihre Unterarme auf die Kante und stieГџ sich mit den FГјГџen vom Zwinger ab. Als sie sich bewegte, rutschte sie ab und fiel hin, wobei ihre HГјften gegen die Schwelle und die rasiermesserscharfen Scherben schlugen, die sich dort angesammelt hatten.

Glücklicherweise war der Großteil ihres Gewichts auf dem äußeren Teil der Kante gelandet und sie ließ sich kopfüber nach draußen fallen. Sie landete auf ihrer rechten Schulter, bevor sie mit einem Aufprall auf ihrem Rücken zum Liegen kam. Sie ignorierte den Schmerz, richtete sich auf und taumelte vom Gebäude weg, auf der Suche nach irgendetwas, das einer Straße nahekam.

Nach einigen Minuten des Suchens fand sie zufällig eine, als ihre nackten Füße sich vom Gras auf Erde und Kies bewegten. Sie blickte nach unten und war kaum in der Lage, den Farbunterschied zwischen den beiden Oberflächen zu erkennen. Dennoch gab sie ihr Bestes, der Straße zu folgen, wobei sie mehr ihren Füßen als ihren Augen traute und versuchte, sich nicht von der Panik beherrschen zu lassen.

Als sie an einem Berghang ankam, fragte sie sich, wohin er sie gebracht hatte, da sie keine Lichter der Stadt sehen konnte. Und dann, plötzlich waren sie da. Als sie den Hügel hinabging, strahlten die hellen Lichter der Innenstadt von LA wie ein Leuchtturm von der Größe einer Stadt, der ihr sowohl Warnung als auch Trost bot.

Geblendet von den Lichtern ging sie weiter. Caroline lebte in West-Hollywood, wo es fast nie dunkel war, was sie nie bemerkt hatte. Jetzt gab ihr das plötzliche Auftauchen der Stadt das Gefühl, als sei sie in einer Wüste gewesen und gerade auf eine Oase gestoßen. Sie machte noch einen weiteren Schritt, verließ den Feldweg und spürte wieder das feuchte Gras unter ihren Füßen.

Doch plötzlich merkte sie, wie sie abrutschte. Sie realisierte zu spät, dass sie an den Rand eines anderen Hügels getreten war und dass dieser unter ihren Füßen abrutschte. Sie drehte sich, als sie fiel, und versuchte, ihre Arme auszustrecken, um eine Wurzel oder einen Ast zu greifen. Aber mit den Schnüren an ihren Handgelenken war es unmöglich.

Plötzlich stürzte sie hinunter, prallte an Felsen und Bäumen ab. Sie versuchte, sich zusammenzurollen. Es fiel ihr allerdings schwer, etwas Anderes zu tun als zu ächzen. Irgendwann knallte ihr rechtes Bein gegen einen Baumstamm und bog sich.

Caroline wusste nicht, wie lange sie noch stГјrzte, aber als sie schlieГџlich zum Stillstand kam, war es nur der entsetzliche Schmerz, der ihr versicherte, dass sie noch am Leben war. Sie Г¶ffnete die Augen und erkannte, dass sie die ganze Zeit Гјber fest zusammengepresst gewesen waren.

Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich orientiert hatte. Sie stellte fest, dass sie auf dem Rücken lag und den Hügel hinaufblickte. Sie vermutete, dass sie leicht fünfundsiebzig Meter von einer steilen, mit Felsen, Gestrüpp und toten Bäumen übersäten Klippe heruntergestürzt war. Sie neigte ihren Kopf nach links und sah etwas, das sie trotz aller Schmerzen mit Freude erfüllte: Scheinwerfer.

Sie zwang sich, sich auf den Bauch zu rollen. Sie wusste, dass es keine Möglichkeit gab, ihr rechtes Bein zu belasten, geschweige denn auf die Füße zu kommen. Also kroch sie, grub ihre Fingernägel vor sich in die Erde und stieß sich mit ihrem noch funktionstüchtigen linken Bein ab. Sie schaffte es, ihren Körper halb auf die Straße zu bringen, wo sie sich auf den Rücken rollte und verzweifelt mit ihren gefesselten Armen über dem Kopf winkte.

Die Scheinwerfer hörten auf, sich zu bewegen, und sie hörte, wie der Motor des Fahrzeugs abgestellt wurde. Als jemand aus dem Auto stieg und sie sah, wie sich Stiefel auf sie zubewegten, kam ihr plötzlich ein schrecklicher Gedanke.

Was, wenn dies der Mann ist, der mich entfГјhrt hat?

Einen Augenblick später ließen ihre Ängste nach, als die Person sich niederkniete und sie sah, dass es eine Frau war, die eine Uniform trug, die wie eine Parkuniform aussah.

„Was zum Teufel…?", sagte die Frau, bevor sie ihr Funkgerät herauszog und eindringlich hineinsprach. „Hier spricht Ranger Kelso. Ich habe einen Notfall auf dem Vista Del Valley Drive in Quadrant sechs. Eine verletzte Frau liegt auf der Straße. Ihr rechtes Bein ist sichtlich gebrochen und ihre Handgelenke sind gefesselt. Rufen Sie die Notrufzentrale an. Ich glaube, sie wurde entführt, genau wie die anderen.“




KAPITEL ZWEI


„Warum rieche ich Verbranntes?"

Hannah stellte die Frage ruhig, aber Jessie konnte die Anschuldigung in ihrem Tonfall hören. Es gab nur einen Grund dafür, dass etwas anbrennen könnte – Jessie versuchte zu backen und scheiterte wieder einmal kläglich.

Sie huschte vom Küchentisch, auf dem sie Trivial Pursuit gespielt hatten, zum Ofen hinüber und riss die Tür auf, um festzustellen, dass ihre Heidelbeer-Orangen-Scones deutlich schwärzlich und verbrannt aussahen. Sie zog schnell einen Handschuh an, zog sie heraus und warf sie kurzerhand auf die Herdplatte. Von dem am stärksten verkohlten Gebäck, dem kleinen in der hintersten Reihe, stiegen kleine Rauchschwaden auf.

Jessie konnte Ryan vom Tisch aus glucksen hören. Hannah trug einen enttäuschten Gesichtsausdruck, als wäre sie der offizielle Vormund, der versuchte, ihren besorgten Schützling nicht zu züchtigen. Natürlich war es meistens umgekehrt, so dass in Hannahs Gesicht auch ein Hauch von Zufriedenheit zu sehen war.

„Reib es mir nicht unter die Nase!“, sagte Jessie defensiv.

„Das würde ich nie", antwortete Hannah beleidigt.

„Vielleicht könnten wir sie als Hockey-Pucks verwenden", bot Ryan an.

„Oder beim Dreieckswerfen?“, schlug Hannah viel zu enthusiastisch vor. „Du weißt schon, wie chinesische Wurfsterne, aber mit zusätzlichen Kohlenhydraten."

Jessie versuchte, sich nicht zu sehr Гјber die gutmГјtigen Spitzen ihrer Halbschwester zu Г¤rgern. Sie blickte auf die rauchenden Гњberreste ihrer Anstrengung hinunter und seufzte.

„Ich schätze, wir holen deine letzte Ladung aus dem Gefrierschrank", sagte sie resigniert.

„Nur zu", sagte Hannah. „Aber beeil dich. Ich bin nur noch zwei Kuchenstücke davon entfernt, dieses Spiel zu gewinnen."

„Gebt mir eine Minute", sagte Jessie, als sie durch die Tiefkühltruhe wühlte und den Behälter mit den Scones fand. Sie steckte sie in die Mikrowelle und wartete, während sie sich erwärmten, um nicht zu riskieren, auch diese zu verbrennen.

„Ich verstehe das nicht", sagte Ryan neckisch. „Du bist die zweitberühmteste Kriminalprofilerin in Südkalifornien, und doch scheinst du unfähig zu sein, etwas zu kochen, das ohne Mikrowelle auskommt. Wie ist das möglich?"

„Prioritäten, Hernandez", antwortete sie schlichtweg. „Irgendwo zwischen dem Verfolgen von Serienmördern, dem Steuern der Abteilungspolitik, dem für dich sexy sein…"

„Ekelhaft", warf Hannah ein.

„Und dem Großziehen eines jugendlichen Besserwissers“, fuhr sie fort.

„Ich brauche keine Erziehung", konterte Hannah lächelnd.

Jessie sprach weiter.

„Irgendwo inmitten von all dem habe ich vergessen, Backunterricht zu nehmen. Verurteilt mich!“

„Wollte dein Ex-Mann dich deshalb umbringen?“, fragte Hannah und tat mit großen Augen so, als wäre sie unschuldig.

„Nein", schaltete sich Ryan ein. „Das war wegen ihres Hackbratens. Er ist ein Verbrechen."

Jessie versuchte, nicht zu lächeln.

„Ich finde es nicht gerade gut, dass ihr euch gegen mich verschworen habt. Und ich möchte, dass ihr beide wisst, dass niemand, der versucht hat, mich zu töten, jemals meine Kochkünste als Grund genannt hat."

„Sie waren nur höflich", sagte Hannah.

Jessie wollte gerade antworten, als die Mikrowelle klingelte. Sie nahm die Scones heraus, legte sie auf Teller und reichte sie den anderen. Dann setzte sie sich und nahm einen Bissen.

„Mmm", murmelte sie leise.

„Nicht zu verbrannt?“, fragte Hannah.

„Ich möchte sarkastisch sein, aber ich kann es einfach nicht", murmelte Jessie mit vollem Mund. „Wieso gelingen sie dir so?"

Hannah lächelte breit, ohne den für sie typischen Zynismus. Jessie konnte nicht umhin zu bemerken, wie lebendig sie in letzter Zeit aussah. Ihre grünen Augen, typisch stumpf vor Desinteresse, funkelten. Ihr sandig-blondes Haar schien irgendwie glänzender als sonst. Sie erschien in letzter Zeit sogar noch größer und ging mit höher erhobenem Kopf. Mit 1,64 Metern war sie nur einen Zentimeter kleiner als Jessie. Aber mit ihrer verbesserten Körperhaltung und ihrem athletischen Körperbau könnte sie das Körper-Double ihrer Schwester sein.

„Das Geheimnis läuft auf ein Wort hinaus: Butter. Machen wir zwei Worte daraus: viel Butter."

Bevor Jessie noch einen Bissen nehmen konnte, klingelte ihr Telefon. Sie blickte nach unten und bemerkte, dass dies ein Anruf war, den sie erwartet hatte.

Ist es schon neun Uhr?

Sie hatte so viel Spaß gehabt, dass sie das Zeitgefühl völlig verloren hatte.

„Wer ist es?“, fragte Ryan.

„Es ist der erfolgreichste Kriminalprofiler Südkaliforniens. Er wollte meine Meinung zu einem Fall", log sie. „Gebt mir eine Viertelstunde."

„Okay", sagte Hannah, „aber danach überspringen wir dich."

„Verstanden", sagte Jessie und nahm den Scone und ihr Telefon mit ins Schlafzimmer.

Sie versuchte, ihren Tonfall beizubehalten. Aber nicht einmal Hannahs köstliches Gebäck konnte die Nervengrube füllen, die sich plötzlich in ihrem Magen gebildet hatte. Sie wollte gerade abnehmen, als sie einen Sinneswandel hatte. Sie wollte diesen fast perfekten Abend nicht unterbrechen, um dunklere Dinge zu besprechen, und beschloss, es nicht zu tun. Sie schickte den Anruf auf die Mailbox und schrieb stattdessen eine SMS.

Ich habe einen tollen Abend mit Hannah. Ich möchte ihn ungern unterbrechen. Können wir morgen reden?

Nach einigen Sekunden erhielt sie eine Antwort. Sie konnte fast die Schroffheit des Antwortschreibers hören.

Persönliches Treffen. Pausenraum des Reviers. Punkt 7 Uhr.

Sie tippte ein "Ok" zurГјck und lieГџ es dabei bewenden. Sie wusste, dass der Kerl gerne frГјh ins BГјro ging, aber sie konnte nicht anders, als zu denken, dass er sie zu dieser unchristlichen Zeit zu einem Treffen mit ihm zwang, um sie fГјr die Verschiebung des Termins zu bestrafen. Dennoch war es das wert, wenn sie dadurch mehr Zeit mit Hannah verbringen konnte.

„Hey", rief sie, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, „ich habe beschlossen, dass es wichtiger ist, euch fertig zu machen. Ich hoffe, ihr habt mich nicht übersprungen.“

Als sie wieder hinüberging, wusste sie, dass sie das Thema, das sie beschäftigte, nur hinauszögerte. Aber eine weitere Nacht mit Spielen zu verbringen, war nicht das Ende der Welt. Zumindest redete sie sich das ein. Die grässliche Wirklichkeit würde auch morgen noch auf sie warten.




KAPITEL DREI


Mit einer bemerkenswerten Ausnahme war der Pausenraum leer.

„Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen", sagte Jessie, als sie um 6.58 Uhr ankam. Zur Sicherheit schloss sie die Tür hinter sich ab.

„Ich bin ein viel beschäftigter Mann", sagte Garland Moses mit einem Hauch Ironie und drehte sich zu ihr um. Er saß an einem Tisch und aß etwas, das aussah wie ein Müsliriegel.

„Ein viel beschäftigter Mann, der mir seit einem Monat aus dem Weg geht", bemerkte sie.

„Ich hatte einen großen Fall", protestierte er. „Und dann hatte ich diese Konferenz in Philadelphia. Und dann hatte ich Urlaub."

„Verarschen Sie mich nicht, Garland. In unserem letzten substantiellen Gespräch auf meiner Geburtstagsfeier haben Sie angedeutet, dass Sie Bedenken wegen Hannah hätten. Und dann haben Sie mich einfach einen Monat lang ignoriert. Ich saß die ganze Zeit wie auf heißen Kohlen."

Das war übertrieben. In den letzten vier Wochen lief alles mit Hannah tatsächlich erstaunlich gut. Wenn man bedenkt, was ihre Halbschwester in den letzten sechs Monaten alles durchgemacht hatte, war die Tatsache, dass sie wirklich eine ruhige Nacht mit Brettspielen und Scones genießen konnte, ein kleines Wunder. Das war einer der Gründe, warum sie vergangenen Abend nicht unterbrechen wollte.

„Sie wissen, dass ich ein alter Mann bin, oder?“, sagte Garland. „Ich führe keine Gespräche, in denen der Begriff ‚ignorieren' vorkommt."

„Sie halten mich hin", sagte sie.

„Nein, ich schinde Zeit", sagte er und stand langsam auf. „Lassen Sie uns einen Kaffee trinken."

Er ging auf die Kaffeemaschine zu. Jessie versuchte, den Automaten daneben zu ignorieren. Sie hatte noch nicht gefrühstückt und spürte, wie ihr Magen bei dem Gedanken an einen mit Konservierungsstoffen vollgestopften Snack knurrte. Als Garland sich bewegte, bemerkte Jessie, dass er ein Outfit trug, von dem sie gelernt hatte, dass es im Wesentlichen seine tägliche Uniform war.

Er trug eine langweilig aussehende graue Sportjacke über einer braunen Weste und ein mattes beiges Hemd. Seine marineblaue Hose war zerknittert und seine Slipper waren voller Kratzer. Sein weißes Haar stand in alle Richtungen, als wolle er einen Albert Einstein-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnen. Die Bifokalbrille auf seinem Nasenrücken vervollständigte den Look.

Aber Jessie hatte gelernt, dass der Schein trügen kann und dass der altgediente Profiler den zerzausten Blick kultivierte, damit man ihn unterschätzte. Er war immer perfekt rasiert. Seine weißen Zähne und seine Fingernägel waren makellos. Die Schnürsenkel an seinen abgenutzten Slipper waren neu und ordentlich in Doppelschleifen gebunden.

In allen wichtigen Dingen war er auf der Höhe der Zeit. Sie hatte wirklich angefangen, den alten Mann nicht nur zu respektieren, sondern ihn wirklich zu mögen.

„Okay, Frau Hunt…", begann er, anscheinend bereit, das Hinauszögern zu beenden.

„Ich denke, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Sie mich Jessie nennen können, Garland. Ach Mensch, ich denke sogar darüber nach, Sie von nun an Opa zu nennen."

„Bitte tun Sie das nicht", bestand er darauf. „Okay, Jessie. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Aber ich habe mir ein paar Gedanken über Hannah gemacht. Ich bin bereit, sie mit Ihnen zu teilen, solange Sie sie in ihrem richtigen Kontext behalten."

„Was für ein Kontext ist das?“, fragte Jessie.

„Denken Sie daran, dass dies ein siebzehnjähriges Mädchen ist, dessen Adoptiveltern vor ihren Augen von ihrem biologischen Vater, einem berüchtigten Serienmörder, brutal ermordet wurden."

„Ich bin mir dessen wohl bewusst, Garland", sagte Jessie ungeduldig. „Zunächst einmal war ich dabei. Und zweitens war dieser Serienmörder auch mein Vater, wenn Sie sich erinnern."

„Ich male hier ein Bild", sagte er geduldig. „Darf ich fortfahren?"

„Nur zu", sagte Jessie und beschloss, den Mann, mit dem sie seit einem Monat zu reden versuchte, nicht mehr zu unterbrechen.

„Also dann", fuhr er fort, „nur Wochen später wurde sie von einem anderen Serienmörder entführt, der sie zu einer Mörderin wie er und ihr Vater machen wollte. Dabei ließ er sie zusehen, wie er ihre Pflegeeltern abschlachtete."

Jessie spürte den Drang, darauf hinzuweisen, dass sie als die Person, die Hannah in beiden Fällen gerettet hatte, mit den Einzelheiten bestens vertraut war. Aber offensichtlich wusste er das alles. Er wollte ein Argument vorbringen. Stattdessen beobachtete sie sich in der Spiegelung des Automaten selbst und versuchte, ihre zerfurchte Stirn durch bloßen Willen zu glätten, während er sprach.

„Das ist wahr", bemerkte sie und hielt ihre Stimme neutral.

„Und mitten in all dem erfuhr sie, dass sie eine Halbschwester hat, eine, die sie gefoltert sah und die durch die Natur ihrer Arbeit Tod und Gefahr zu umwerben scheint. Sie sind ihre letzte verbliebene Verwandte. Und jedes Mal, wenn sie sich von Ihnen verabschiedet, weiß sie, dass es vielleicht das letzte Mal ist.“

Jessie hatte diese Tatsache nicht bedacht und fГјhlte sich sofort schlecht, sowohl wegen Hannah als auch wegen ihres eigenen Mangels an Einsicht.

„Trotzdem", antwortete sie schließlich, „Sie wussten das alles schon, als Sie Zeit mit ihr verbracht haben.“

„Sie meinen, als Sie mich baten, auf sie aufzupassen, damit ich heimlich ein Profil von ihr erstellen kann?"

„Das haben Sie jetzt gesagt. Der Punkt ist, dass Sie das alles schon wussten, als Sie sie kennengelernt haben, und trotzdem sagten Sie mir, dass Sie Bedenken hätten.“

„Ja, die habe ich", gab er schließlich zu. „Ich werde nicht auf die Einzelheiten eingehen, weil ich ihr Vertrauen nicht missbrauchen will, und die sind sowieso nicht so wichtig. Aber aufgrund der Dinge, die wir besprochen haben, bin ich besorgt über Hannahs scheinbar mangelndes Einfühlungsvermögen. Ich bin mir einfach nicht sicher, wie besorgt ich sein sollte."

Jessie fand es erleuchtend, sich selbst im Fenster anzustarren, als sie diese Nachricht aufnahm. Sie war in der Lage, ihre Reaktionen in Echtzeit zu sehen. Hoffentlich hatte sie ein besseres Pokergesicht, wenn sie sich in öffentlichen Konfrontationen befand. Aber in der relativen Abgeschiedenheit des Pausenraums und während sich Garland darauf konzentrierte, Zucker in seinen Kaffee zu rühren, versuchte sie nicht, ihren plötzlich aschfahlen Teint oder die Angst in ihren grünen Augen zu verbergen. Sie pustete ihr braunes Haar aus dem Gesicht und reagierte vorsichtig.

„Möchten Sie das näher ausführen?"

„Hören Sie", antwortete er. „Die meisten Teenager sind von Natur aus bis zu einem gewissen Grad egozentrisch. Das gehört dazu, um ihre eigene Identität zu finden. Um herauszufinden, wer man ist, muss man sich selbst in den Mittelpunkt stellen. Das ist normal, wenn auch manchmal ärgerlich."

„Bis jetzt kann ich Ihnen noch folgen."

„Aber sie hat auch so viele Traumata durchlebt, dass es nicht abwegig wäre, wenn sie emotional einfach komplett dichtmachen würde. Wenn alles, was sie fühlt, nur eine Variation des Schmerzes ist, warum sollte sie dann überhaupt etwas fühlen, nicht nur für sich selbst, sondern für egal wen? Es ist also möglich, dass ein Teil von ihr als eine Form des Selbstschutzes einfach gefühllos wird. Das wäre zwar beunruhigend, aber auch nicht schockierend."

„Und dennoch…", sagte Jessie und sah zu ihm hinüber.

„Und doch", räumte er ein, „ist mir nicht klar, dass ihre verschlossene Natur nicht schon existierte, bevor all dies geschah. Manche Menschen gehen einfach keine starken Bindungen oder überhaupt Bindungen ein, aus welchem Grund auch immer. Ihre Mutter starb, als sie noch klein war. Sie war eine Zeitlang in einer Pflegefamilie, bevor sie adoptiert wurde. Jede Menge Dinge hätten ihre Fähigkeit, Bindungen zu entwickeln, beeinträchtigen können".

„Oder sie könnte einfach so geboren worden sein", schlug Jessie vor. „Es könnte an den Genen liegen."

„Das ist auch möglich", stimmte Garland zu und ging zur Seite, um seinen Kaffee zu trinken. „Das Problem ist, dass es keine qualitativ hochwertigen Studien gibt, die diesbezüglich etwas Eindeutiges belegen. Aber das ist nicht wirklich das, was Sie fragen, oder?"

„Was frage ich denn, Garland?“, konterte Jessie.

„Sie fragen, ob sie das Potenzial hat, eine Mörderin zu werden, wie es Ihr gemeinsamer Vater war, wie Bolton Crutchfield sie zu machen versuchte und Sie befürchten, dass Sie es werden könnte. Habe ich Recht?"

Jessie war länger still, als erhofft.

„Sie haben Recht", sagte sie schließlich leise.

Jessies Augen waren darauf gerichtet, Milch in ihren Kaffee zu gießen. Es entstand eine längere Pause, bevor Garland antwortete. Sie stellte sich vor, wie er innerlich darüber debattierte, wie er am besten vorgehen sollte.

„Die frustrierende Antwort lautet: Ich weiß es einfach nicht. Wir wissen beide sehr wohl, dass die verhaltenswissenschaftlichen Forschungen des FBI darauf hindeuten, dass fast jeder Serienmörder in den Akten eine Art Trauma als junger Mensch erlebt hat. Das kann in Form von Missbrauch, Mobbing oder dem Verlust eines geliebten Menschen geschehen sein. Meine persönliche anekdotische Erfahrung bekräftigt diese Befunde".

„Meine auch", stimmte Jessie zu. „Aber mir ist aufgefallen, dass Sie 'fast' alle Serienmörder sagten.“

„Ja. Es gibt Aufzeichnungen von Mördern, die scheinbar eine ganz normale Kindheit hatten, ohne eine eindeutige Tortur durchgemacht zu haben. Manche Leute sind einfach… daneben. Das wissen Sie so gut wie ich."

„Das tue ich", sagte Jessie, als sie zum Tisch zurückkehrten. „Aber was ich wissen möchte, ist, ob meine Halbschwester, das Mädchen, das unter meinem Dach lebt, eine von ihnen ist. Denn wenn sie schon so früh in ihrem Leben so viel Schreckliches durchgemacht hat und ihr das Empathie-Gen fehlt, dann haben wir ein Problem.“

„Vielleicht", sagte Garland vorsichtig, als sie sich setzten. „Aber vielleicht auch nicht. Nach unserem Wissen hat sie keine Tiere gequält oder getötet."

„Nach bestem Wissen und Gewissen", räumte Jessie ein.

„Und Sie haben viele der gleichen Drangsale durchgemacht wie sie. Ihr Serienmörder-Vater hat Ihre Mutter und Ihre Adoptiveltern ermordet, und er hat versucht, Sie zu töten, ebenso wie ein anderer Serienmörder, der von Ihnen besessen war. Und vergessen Sie nicht den Ex-Mann, der versucht hat, Ihnen den Mord an seiner Geliebten anzuhängen, und der dann versucht hat, Sie zu töten, als Sie es herausgefunden haben. Sie haben selbst ein ziemlich gutes Trauma erlitten, und Sie haben keine Mordanschläge verübt.“

„Nein", sagte Jessie und hielt inne, bevor sie etwas enthüllte, das sie erst mit wenigen anderen geteilt hatte. „Aber ich habe mich oft gefragt, ob ich dieses Feld betreten habe, um der Gewalt und Grausamkeit dieser Menschen nahe zu sein, ohne dass ich mir selbst die Mühe machen muss. Ich mache mir Sorgen, dass ich durch ihre Verbrechen eine Verbindung zu ihnen herstelle.“

Garland war einen Moment lang still, und sie machte sich Sorgen, dass er sich vielleicht das Gleiche fragen wГјrde.

„Dafür ist die Therapie da", sagte er schließlich und war dadurch nur wenig hilfreich.

Sie war im Begriff, eine höhnische Antwort zu geben, als ihr Telefon klingelte. Sie schaute nach unten. Es war ihre Freundin Kat Gentry. Sie schickte den Anruf direkt auf die Mailbox.

„Wären Sie bereit, sich noch einmal mit Hannah zu treffen?", fragte sie. „Um zu sehen, ob Sie konkretere Schlussfolgerungen ziehen können?"

„Ich bin bereit, mich mit ihr zu treffen, vorausgesetzt, sie ist offen dafür", sagte er. „Aber das bedeutet nicht, dass ich einen massiven 'a-ha'-Moment haben werde. Am Ende ist es schwer zu erkennen, ob sie nur ein launischer Teenager, ein traumatisierter, emotional verkümmerter junger Erwachsener oder eine Kombination aus beidem ist.“

Auf ihrem Display erschien eine Nachricht von Kat: Ich brauche deine Hilfe mit einem Fall. Treffen um 7.30 Uhr im Stadtzentrum?

Jessie schaute auf die Uhr. Es war 7:10 Uhr. Was immer Kat brauchte, musste dringend sein, wenn sie sich so schnell treffen wollte.

„Sie haben eine Möglichkeit ausgelassen", bemerkte Jessie, während sie "ok" tippte.

„Welche?", fragte er.

„Eine Soziopathin, die es gut versteckt."




KAPITEL VIER


Kat wartete bereits in dem belebten CafГ©, als Jessie ankam.

Noch bevor sie sich setzte, konnte Jessie erkennen, dass ihre Freundin besorgt wirkte.

Das war ungewöhnlich, zumindest in letzter Zeit. Katherine "Kat" Gentry war früher viel stärker. Als ehemalige Sicherheitschefin eines psychiatrischen Gefängnisses und davor, als Army Ranger in Afghanistan, hatte sie das irgendwie definiert.

Aber nachdem sie entlassen worden war, als Bolton Crutchfield aus dem Gefängnis entkommen war und sie sich als Privatdetektivin neu positioniert hatte, schien sie viel entspannter zu sein. Und besonders kürzlich, nachdem sie mit Mitch Connor, einem Hilfssheriff aus einer ein paar Stunden entfernten Stadt in den Bergen, zusammengekommen war, schien sie wirklich glücklich zu sein. Er hatte ihr bei einem von Jessies Fällen geholfen. Seitdem waren die beiden unzertrennlich und fuhren ständig hin und her, um die Wochenenden zusammen zu verbringen.

Aber jetzt, da Jessie sich ihr näherte, sah sie diese alte, vertraute Besorgnis in Kats Gesicht. Irgendwie schien die lange Narbe, die sie von einem nicht näher beschriebenen Vorfall in einer weit entfernten Wüste erlitten hatte und die vertikal von ihrem linken Auge über ihr Gesicht verlief, deutlicher sichtbar zu sein.

„Wie geht's, Kat?“, fragte Jessie laut, bevor sie einen Schluck von dem Kaffee nahm, den ihre Freundin bereits für sie bestellt hatte. „Hast du immer noch so viel Sex?"

Sie lächelte schelmisch, als mehrere Leute den Kopf drehten und finster dreinblickten. Die Tatsache, dass sich Kats beunruhigter Gesichtsausdruck bei der Neckerei nicht änderte, sagte Jessie, dass die Situation ernst sein musste.

„Ich brauche deine Hilfe", sagte sie ohne Präambel.

„Okay", sagte Jessie und wurde selbst ernst. „Was geht hier vor?"

Kat gönnte sich einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor sie loslegte.

„Weißt du etwas über die jüngsten Entführungen hiesiger Frauen?"

„Ein wenig", antwortete Jessie. „Ich weiß, dass im letzten Monat oder so drei Frauen entführt wurden. Alle sind entkommen. Ich habe die Nachrichten nicht besonders aktiv verfolgt, da es nicht in meinen Bereich fällt und es sich bei keiner von ihnen um einen Fall der Central Station handelt."

Jessie und Ryan arbeiteten beide von der Central Station aus im Central Bureau der Polizei von Los Angeles.

„Ich habe eine neue Klientin", sagte Kat. „Ihr Name ist Morgan Remar. Sie war die zweite Frau, die entführt wurde. Sie wurde vor etwa drei Wochen entführt und entkam, nachdem sie fünf Tage lang festgehalten worden war. Sie ist mit der Einheit für Vermisste aus der Pacific Station in Kontakt. Aber nach zwei Wochen haben sie immer noch nichts gefunden. In den letzten paar Tagen waren sie überhaupt nicht mehr erreichbar. Also hat sie mich angerufen."

„Nichts für ungut, aber wenn der Vorfall in der Nähe der Pacific Station passiert ist, warum hat sie dich dann engagiert?"

„Das ist eine berechtigte Frage", sagte Kat. „Sie arbeitet in Venice, wohnt aber in der Nähe und ihr Mann arbeitet in der Innenstadt, nur ein paar Blocks entfernt. Tatsächlich traf ich sie vor etwa drei Monaten in genau diesem Café, und wir freundeten uns an. Sie war frustriert und hat mich gefragt, ob ich ihr helfen könnte.“

„Okay, erzähl mir, was du weißt.“

Kat seufzte tief, als ob der Gedanke, alles zu erklären, was sie erfahren hatte, nicht besonders entmutigend wäre.

„Hier die Kurzversion", sagte sie schließlich. „Das erste Opfer war Brenda Ferguson. Sie ist eine sechsunddreißigjährige Hausfrau mit zwei Kindern aus zweiter Ehe. Ihr Ehemann ist Plattenmanager. Sie wurde am Vormittag entführt, als sie auf einem Pfad in der Nähe ihres Hauses in Brentwood joggte. Nachdem sie drei Tage lang in einem Gartenschuppen festgehalten worden war, gelang es ihr, zu entkommen".

Jessie kritzelte eilig Notizen nieder, während ihre Freundin sprach.

„Bin ich zu schnell?“, fragte Kat.

„Nein. Alles gut. Fahr fort."

„Okay. Das zweite Opfer war meine Mandantin, Morgan. Sie ist neunundzwanzig und lebt mit ihrem Mann in West Adams, nur ein paar Meilen von hier entfernt. Aber sie arbeitet in einem Obdachlosenheim in Venice. Sie wurde auf dem Rückweg vom Mittagessen auf dem Boardwalk entführt. Wie ich schon sagte, wurde sie fünf Tage lang festgehalten, bevor sie entkommen konnte. Er hielt sie in einem alten Kleiderschrank fest."

„Und die dritte Frau?"

„Ihr Name ist Jayne Castillo. Sie ist dreiunddreißig, verheiratet und lebt in Mid-City. Sie wurde vor anderthalb Wochen von einem Parkplatz eines Supermarktes mitgenommen und entkam nach drei Tagen, nachdem sie in einem Müllcontainer gefangen gehalten worden war."

„Hast du dich an die beiden anderen Frauen gewandt?“, fragte Jessie.

„Ich habe es versucht", sagte Kat und schaute frustriert. „Aber ich treffe immer wieder auf Ziegelsteinmauern. Sie wollen nicht reden. Die Polizisten wollen nicht reden. Deshalb wende ich mich an dich. Ich bin hier mit meiner Weisheit am Ende. Morgan ist paranoid, dass dieser Kerl immer noch da draußen ist, und ich kann ihr keine Sicherheit geben, weil ich noch keinen Schritt weiter bin."

Jessie nahm noch einen Schluck, bevor sie ihre nächste Frage stellte. Sie wusste, worauf Kat hinauswollte, wollte sich aber überlegen, wie sie antworten würde.

„Wie kann ich helfen?", fragte sie schließlich.

Kat brauchte keine Anregung, um zu antworten.

„Könntest du dich an die Kommissare wenden, die die Fälle bearbeiten? Vielleicht sind sie dir gegenüber mitteilsamer. Im Moment tappe ich hier im Dunkeln."

Jessie seufzte.

„Ich kann es versuchen", sagte sie. „Das Problem ist, dass diese Typen alle von anderen Revieren kommen. Sie sind wahrscheinlich nicht geneigt, Einzelheiten ihrer Fälle mit einem Profiler von einem anderen Revier zu teilen, da wir ja kein Opfer haben. Aber es kann nicht schaden, es zu versuchen. Vielleicht finde ich jemanden, der freundlich ist."

„Ich weiß, es ist viel verlangt", räumte Kat ein. „Bist du sicher, dass du die Zeit dafür hast?"

„Es ist in Ordnung", versicherte Jessie ihr. „Tatsächlich habe ich momentan keinen Stress. Ich arbeite an dem Papierkram eines Falles von letzter Woche und warte darauf, in einem anderen Fall auszusagen. Aber ich habe im Moment nichts Akutes. Captain Decker kann mich natürlich jederzeit mit etwas Neuem beauftragen. Aber bis dahin kann ich versuchen, etwas herauszufinden."

„Das würde ich wirklich zu schätzen wissen."

„Willst du mich verarschen?“, sagte Jessie. „Wie oft hast du mir schon bei einem Fall geholfen, wenn ich nicht den Dienstweg nehmen wollte? Das ist das Mindeste, was ich tun kann."

„Danke, Jessie", sagte Kat und klang zum ersten Mal, seit sie angefangen hatten zu reden, erleichtert.

„Kein Problem. Aber kann ich mit Morgan sprechen? Es würde mir wirklich helfen, ihre Sichtweise aus erster Hand zu bekommen."

„Natürlich", sagte Kat. „Sie ist gerade auf einer Konferenz außerhalb der Stadt und kommt erst spät heute Abend zurück. Aber ich kann für morgen etwas arrangieren."

„Das klingt gut. Ich werde sehen, was ich in der Zwischenzeit herausfinden kann", sagte Jessie, bevor sie noch einen großen Schluck Kaffee nahm. „Jetzt, wo wir das alles geklärt haben, habe ich noch eine Frage."

„Und die wäre?"

„Hast du viel Sex?"

Kat fing plötzlich an zu lächeln – darauf hatte Jessie bereits gehofft, als sie das erste Mal die Frage stellte. Auch ihr Gesicht wurde rot.

„Ich bin gut beschäftigt", sagte sie kryptisch.

„Ich wette, das bist du", neckte Jessie.

„Und was ist mit dir?“, konterte Kat und versuchte, selbst ein wenig Druck auszuüben. „Wie läuft es mit Ryan?"

Jessie war nun an der Reihe, rot zu werden.

„Es läuft gut", sagte sie. „Wir wechseln uns immer ab, wo wir übernachten, obwohl es wegen Hannah normalerweise meine Wohnung ist."

„Und es macht dir nichts aus, in Sünde zu leben mit einer beeinflussbaren Jugendlichen unter deinem Dach?“, fragte Kat, ein neckisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

„Glaub mir, dieses Mädchen hat genug gesehen, dass es nicht beunruhigt ist, dass der Freund ihrer Schwester bei ihr übernachtet. Ich glaube, sie findet es sogar beruhigend."

„Wir werden sehen, ob sie noch so beruhigt ist, wenn ihr alle ins Gras beißt", sagte Kat und versuchte, nicht zu lachen.

„Das macht dir wirklich Spaß, nicht wahr?"

„Du hast ja keine Ahnung."

Trotz der Sticheleien erlaubte sich Jessie, den Moment zu genießen. Zumindest für ein paar Sekunden konnte sie vergessen, dass sie sich nicht sicher war, ob ihre kleine Schwester eine Soziopathin war oder ob sie oder ihr Freund bei der Arbeit erschossen werden könnte. Sie konnte so tun, als führe sie ein normales Leben mit normalen Familien- und Beziehungsproblemen.

Dann verging der Augenblick.




KAPITEL FГњNF


Jessie hatte GlГјck.

Als sie kurz nach 8 Uhr in das Büro des LAPD-Hauptreviers in der Innenstadt ging und versuchte, sich unauffällig zu verhalten, herrschte reges Treiben. Vice hatte gerade über Nacht eine große Razzia durchgeführt und einen großen Prostitutionsring zerschlagen. Das ganze Revier war voll von Nutten, Zuhältern und Freiern.

Das bedeutete, dass niemand sie bemerkte, als sie sich zu ihrem Schreibtisch schlich. Selbst Ryan, der einem uniformierten Beamten half, einen wütenden Freier zu überwältigen, sah sie nicht vorbeilaufen. Sie konnte nicht anders, als ihn zu bemerken. Obwohl sie nun schon seit einigen Monaten zusammen waren und sie mit den Konturen seines Körpers vertraut war, war sie immer wieder beeindruckt von seiner Attraktivität.

Mit seinen 1,80 Metern und knapp 100 Kilo war er körperlich nicht gerade beeindruckend. Aber wie sie aus persönlicher Erfahrung wusste, war kein Gramm Fett an seinem muskulösen, zweiunddreißig Jahre alten Körper zu finden. Trotz seines stählernen Oberkörpers strahlte Ryan für einen altgedienten Kommissar der Mordkommission überraschende Bescheidenheit und Wärme aus. Er hatte stets ein Lächeln im Gesicht und sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, damit es seine freundlichen braunen Augen nicht verdeckte.

Wenn er sprach, gab seine leise Stimme keinen Hinweis darauf, dass er der gefeierte Kommissar in der Sonderabteilung für Mordfälle (Homicide Special Section, HSS) der Abteilung war, die Fälle untersuchte, die in den Medien große Beachtung fanden oder intensiv untersucht wurden und an denen oft mehrere Opfer und Serienmörder beteiligt waren. Jessie war manchmal der Meinung, dass seine Fähigkeit, sich in diesen Fällen zurechtzufinden, und seine Beziehung zu ihr ihm eine besondere Belobigungsmedaille einbringen sollten.

Als sie sich setzte, drängte Jessie die Gedanken an ihren Freund aus ihrem Kopf und begann, die Fallakten der entführten Frauen aufzurufen. Die Einzelheiten waren spärlich, was anscheinend zum Großteil daran lag, dass den Frauen für viele ihrer Torturen die Augen verbunden worden waren.

Nachdem sie sich so gut wie möglich mit den Vorfällen vertraut gemacht hatte, beschloss sie, den leitenden Kommissar des Falles, Morgan Remar, anzurufen. Zum einen war dies der Fall, der für Kat am relevantesten war. Zum anderen hatte der beauftragte Kommissar der Pacific Station, Ray Sands, eine hervorragende Akte und einen guten Ruf als jemand, dem die Lösung von Fällen wichtiger war als die Einhaltung strenger Vorschriften. Vielleicht wäre er offen.

„Sands", sagte er gleich beim ersten Klingeln.

„Hallo Kommissar Sands", sagte sie so lässig wie möglich. „Hier ist Jessie Hunt. Ich bin Kriminalprofilerin und arbeite von der Central Station aus. Wie geht es Ihnen?"

„Ich bin sehr beschäftigt, Frau Hunt. Was kann ich für Sie tun?", fragte er höflich.

„Ich hatte gehofft, Sie können mir Ihre Meinung zu einem Fall mitteilen, an dem Sie gerade arbeiten.“

„Was für ein Fall ist das?“, fragte Sands vorsichtig.

„Die Entführung von Morgan Remar. Ich hatte gehofft, Sie könnten ein paar Lücken füllen."

„Was interessiert Sie an dem Fall, Frau Hunt? Ich habe von Ihnen gehört und dachte, Ihr Spezialgebiet seien Mordfälle, vor allem Serienmörder."

„Ist es auch", räumte Jessie ein. Sie entschied, einfach direkt und offen zu sein und sagte ihm die Wahrheit. „Ich untersuche den Fall für eine Freundin, Katherine Gentry. Frau Remar hat sie als Privatdetektivin beauftragt, und sie wurde bei dem Versuch, Einzelheiten über den Fortgang des Falles zu erfahren, mit einigen Rückschlägen konfrontiert.“

„Ja, ich bin mit Frau Gentry vertraut", antwortete er mit einem Tonfall der Erschöpfung. „Sie ist sehr… hartnäckig gewesen. Ich werde Ihnen sagen, was ich ihr auch gesagt habe. Wir haben im Moment einfach nicht viele Informationen von hoher Qualität, die wir Ihnen mitteilen können.

Jessie hatte das Gefühl, dass Sands ein anständiger Kerl war, wusste aber, dass er nicht ganz aufrichtig war.

„Herr Kommissar, wollen Sie mir sagen, dass Sie nach einem Monat und drei Entführungen durch denselben Täter keine brauchbaren Hinweise haben?“

Sie konnte die Skepsis in ihrer Stimme nicht verbergen. Sands reagierte ein paar Sekunden lang nicht.

„Hören Sie, Frau Hunt", sagte er sehr langsam. „Sie stellen da eine Menge Vermutungen an, erstens, dass diese Fälle miteinander verbunden sind.“

„Wollen Sie andeuten, dass sie das nicht sind?“, fragte Jessie überrascht.

„Wir wissen es nicht definitiv", sagte er nicht gerade überzeugend. „Alle Entführungen fanden in verschiedenen Gerichtsbarkeiten statt. Alle Frauen wurden in Gegenden gefunden, die weit vom Ort ihrer Entführung entfernt waren.“

„Aber sie wurden alle ungefähr gleich lange festgehalten, bevor sie fliehen konnten", entgegnete Jessie. „Sie wurden alle in geschlossenen Räumen festgehalten. Sie hatten alle in etwa das gleiche Alter und den gleichen sozioökonomischen Background. Sie behaupten doch nicht ernsthaft, dass sie nicht miteinander verbunden sind?"

„Nein", gab er zu. „Aber nicht jeder Kommissar, der die anderen Entführungen untersucht, denkt so. Und da ich vermute, dass Sie sie anrufen werden, nachdem Sie mit mir gesprochen haben, möchte ich klarstellen, dass keine Schlussfolgerungen gezogen wurden."

Jessie seufzte. Sie verstand die Vorsicht von Sands, aber es war unglaublich frustrierend.

„Hören Sie. Ich verstehe. Das ist politisch heikel. Und Sie kennen mich nicht. Aber Kat Gentry ist eine gute Freundin. Und sie versucht, einer sehr verängstigten jungen Frau zu helfen. Ich versuche nur, ein paar Antworten zu bekommen, die ihr dabei helfen, sie zu beruhigen."

„Sie glauben, ich weiß nicht, dass Morgan Remar Angst hat?“, forderte Sands und klang dabei zum ersten Mal richtig wütend. „Ich bin derjenige, der sie im Krankenhaus befragt hat, während die Ärzte Hauttransplantationen an ihr vorgenommen und versucht haben, den Knöchel zu reparieren, den sie sich gebrochen hatte, als sie sich aus dem Schrank befreit hat. Ich bin derjenige, der ihr sagen musste, dass an dem Ort, an dem sie festgehalten worden war, keine brauchbaren Beweise gefunden wurden. Ich arbeite seit zwei Wochen an diesem Fall, während meine Kollegen von den Polizeidienststellen in Mid-Wilshire und West LA sich mit dem Informationsaustausch zurückgehalten haben. Ich habe erst heute Morgen die Genehmigung für eine Sondereinheit erhalten. Ich bin mir der Situation bewusst, Frau Hunt."

„Es tut mir leid", sagte Jessie und war sich dessen bewusst, wie sehr sie sich eingemischt hatte. „Ich wollte nicht andeuten, dass Ihnen das egal ist. Es tut mir nur, nun ja, es tut mir leid."

Sands schwieg. Sie konnte ihn schwer atmen hören. Aber sie wertete die Tatsache, dass er noch nicht aufgelegt hatte, als ein gutes Zeichen. Bevor er es tun würde, versuchte sie einen anderen Kurs.

„Sie sagten, Sie haben heute Morgen eine Sondereinheit genehmigt bekommen?"

„Ja", murmelte er.

„Darf ich fragen, was sich geändert hat?"

„Es gab eine vierte Entführung", sagte er.

„Was?"

„Man fand sie gestern Abend im Griffith Park", sagte Sands. „Dieselbe Vorgehensweise, nur wurde sie diesmal vier Tage lang in einem Hundezwinger festgehalten."

„Meine Güte", murmelte Jessie vor sich hin.

„Ja," stimmte er zu. „Das war es also schließlich, was die Chefs schließlich davon überzeugte, die anderen Hauptkommissare zu übergehen, um unsere Ressourcen zusammenzulegen. Wir hoffen, bis heute Nachmittag wieder einsatzbereit zu sein."

„Wer hat das Sagen?"

„Meine Wenigkeit."

„Kein Wunder, dass Sie so fröhlich sind", sagte sie, bevor sie merkte, dass er ihren Kommentar vielleicht nicht so scherzhaft auffassen würde, wie er eigentlich gemeint war.

„Soll das ein Scherz sein? Das bin ich in meiner charmantesten Form", sagte er und war offensichtlich nicht beleidigt.

„Okay, solange ich Sie in der Ihrer Meinung nach guten Laune antreffe, kann ich Ihnen dann noch eine weitere beleidigende Frage stellen?“

„Schießen Sie los", sagte er. „Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt."

„Vier Entführungen. Nicht eine einzige Spur zur Identität des Entführers. Und doch gelang jeder Frau die Flucht. Erscheint es nicht seltsam, dass ein Täter, der diese Frauen so geschickt entführt hat, so unfähig ist, sie festzuhalten?"

„Das tut es", sagte Sands und gab keinen weiteren Kommentar ab.

„Kann ich aufgrund Ihres Schweigens davon ausgehen, dass Sie genauso skeptisch sind wie ich, dass eine dieser Frauen tatsächlich aus eigener Kraft 'entkommen' ist?

„Das können Sie", sagte Sands. „Auch, wenn nicht alle mit mir übereinstimmen, habe ich das Gefühl, dass dieser Typ – und wir wissen, dass es ein Typ ist – seinen Opfern die Flucht ermöglicht hat.“

„Was macht Sie da so sicher?“, fragte Jessie.

„Abgesehen davon, dass es äußerst unwahrscheinlich erscheint, dass derselbe Mann, der sich all diese Frauen geschnappt hat, ohne dabei erwischt zu werden, sie unachtsam festhalten würde, gibt es noch etwas Anderes.“

„Und was ist das?"

„Wir haben die Orte gefunden, an denen er jede Frau festgehalten hat. In keinem Fall gab es nicht eine einzige Spur brauchbarer DNA. Es gab keine Fingerabdrücke. Es gab keinerlei belastende Beweise irgendwelcher Art. Das ist, wie Sie wissen, unter allen Umständen schwer nachvollziehbar. Aber fast unmöglich, wenn er hätte schnell aufräumen müssen, nachdem er bemerkt hatte, dass die Frauen entkommen waren.“

„Aber nicht, wenn er sie gehen hat lassen", sagte Jessie.

„Korrekt", stimmte Sands zu. „Wenn er sie zu einem von ihm gewählten Zeitpunkt entkommen ließ, hätte er Zeit gehabt, um nach ihrer Flucht aufzuräumen. Ich vermute, er war von dem Moment an vorsichtig, als er sie zu den Orten brachte, wo er sie festhielt, da er wusste, dass sie schließlich entdeckt und gründlich durchsucht werden würden.“

„Warum sollte er das tun?“, fragte Jessie. „Warum das Risiko eingehen, sie gehen zu lassen, wenn sie ihn später vielleicht identifizieren könnten?"

„Vergessen Sie nicht, dass ihnen allen die Augen verbunden waren."

„Aber das waren sie nicht, als er sie entführte."

„Nein", räumte er ein. „Aber die ersten drei entführten Frauen waren sich alle sicher, dass er eine aufwendige Verkleidung trug."

„Trotzdem konnten sie seine Größe, sein Gewicht und seine ethnische Zugehörigkeit einschätzen. Vielleicht könnten sie seine Stimme identifizieren."

„Alles wahr", sagte Sands.

„Ich habe das Gefühl, dass hier mehr vor sich geht, als man auf den ersten Blick sieht", sinnierte Jessie.

„Ich auch", stimmte Sands zu. „Leider habe ich keine Ahnung, was."




KAPITEL SECHS


Jessie lehnte sich weit aus dem Fenster.

Nur weil sie keine aktiven Fälle hatte, hieß das nicht, dass Captain Decker froh wäre, dass sie in Brentwood war, um einen Fall zu untersuchen, mit dem sie nichts zu tun hatte. Und doch war es genau das, was sie tat.

Caroline Gidley, das Opfer, das letzte Nacht gefunden worden war, war bewusstlos und nicht in der Lage zu sprechen. Kommissar Sands hatte sie gewarnt, dass Jayne Castillo, das dritte Opfer, nicht befragt werden wollte. Und da Kats Klientin, Morgan Remar, nicht in der Stadt war, blieb nur noch eine Person zum Reden Гјbrig.

Als sie Sands fragte, ob es ein Fehler wäre, zu versuchen, mit dem ersten Opfer, Brenda Ferguson, zu sprechen, sagte er ihr, dass die Kommissare des Polizeireviers von West LA nicht gerade erfreut darüber sein würden. Aber er hatte sie auch ganz bewusst nie gebeten, dies nicht zu tun. Sogar in ihrer beschränkten Erfahrung mit ihm bekam Jessie das Gefühl, dass dies wohl eine Art Startschuss war.

Ryan hatte sich großzügig bereit erklärt, sich auf dem Revier für sie einzusetzen, um ihre Abwesenheit vor Captain Decker geheim zu halten. Kurz bevor sie zum Haus der Fergusons fuhr, sprach sie mit ihm.

„Was gibt’s Neues?", fragte sie.

„Decker ist so in die Folgen des Überfalls der Sittenpolizei vertieft, dass er nicht mal bemerkt hat, dass du nicht hier bist."

„Ich weiß nicht, ob ich mich erleichtert oder beleidigt fühlen soll", antwortete sie.

„Falls es ein Trost ist, ich vermisse dich", sagte Ryan.

Bewaffnet mit dieser Gewissheit stieg sie aus und machte sich auf den Weg zum Haus. Sie hatte vorher nicht angerufen, aus Angst, Ferguson könnte Rücksprache mit den Kommissaren des Falls halten. Außerdem stellte sie oft fest, dass sie nützlichere Informationen erhielt, wenn sie einen Zeugen, einen Verdächtigen oder sogar ein Opfer überraschte. Sie hatten nicht so viel Zeit, ihre Gedanken zu sortieren und nützliche Informationen wegzulassen.

Das Haus war beeindruckend, wenn auch bei weitem nicht so prunkvoll wie einige andere in der von Bäumen gesäumten Straße. Es war ein zweistöckiges Haus im spanischen Stil, das sich weit über das große Grundstück hinaus erstreckte. Allein der Vorgarten bot Platz für ein zweites Haus. Sie klopfte an die Tür und musste gut sechzig Sekunden warten, bis ein Mann um die dreißig mit misstrauischem Gesichtsausdruck aufmachte.

„Kann ich Ihnen helfen?", fragte er zurückhaltend.

„Ich hoffe es. Ich nehme an, Sie sind Frau Fergusons Ehemann?"

„Ja. Ich bin Ty."

„Hi, Ty", sagte Jessie mit ihrer wärmsten, wenig einschüchternden Stimme. „Ich bin Jessie Hunt. Ich arbeite als Kriminalprofilerin für das LAPD. Ich weiß, dass Brenda eine Menge durchgemacht hat. Aber ich hatte gehofft, kurz mit ihr sprechen zu können. Ich versuche, ein Profil des Mannes zu erstellen, der sie entführt hat, und die Akte des Falls gibt nicht so viel her. Aus Rücksicht auf das, was sie durchgemacht hat, habe ich so lange wie möglich gewartet. Aber ein persönliches Gespräch mit ihr wäre äußerst hilfreich.“

Sie war nicht gerade begeistert davon, ihre erste EinfГјhrung mit NotlГјgen machen zu mГјssen. Aber sie brauchte einen Einstieg und das schien ihr der effektivste Weg zu sein. Ty knallte ihr nicht die TГјr vor der Nase zu, aber er sah immer noch zurГјckhaltend aus.

„Hören Sie", sagte er leise und blickte dabei zurück über die Schulter. „Ich weiß, dass Sie nur Ihren Job machen. Aber Brenda hat so viel durchgemacht. Sie schläft erst seit kurzem wieder durch. Ich mache mir Sorgen, dass dadurch all die Wunden wieder aufbrechen könnten."

Jessie spürte, dass seine Widerspenstigkeit kurz davor war, seine guten Absichten zu überwältigen, und beschloss, dass es jetzt an der Zeit war, offener zu sein.

„Ich kann nicht versprechen, dass das nicht passieren wird, Ty. Aber ich versuche herauszufinden, wer dieser Typ ist, damit er niemanden mehr verletzen kann. Ich weiß nicht, ob Sie sich dessen bewusst sind, aber ein viertes Opfer wurde gestern Abend entdeckt."

„Nein", sagte Ty, seine Augen weiteten sich.

„Ja, sie ist im Krankenhaus. Sie hat ein gebrochenes Bein, nachdem sie nach vier Tagen aus einem Hundezwinger entkommen konnte. Offen gesagt gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieser Typ in absehbarer Zeit aufhören wird. Ich hoffe, dass wir ihn mit Brendas Hilfe finden können, bevor er sich eine fünfte Frau sucht."

Ty sah immer noch hin- und hergerissen aus, aber Jessie merkte, dass er nun dazu tendierte, sie hereinzulassen. Er blickte ein zweites Mal in den Flur zurГјck.

„Warten Sie hier", sagte er schließlich. „Lassen Sie mich zuerst mit ihr sprechen. Vielleicht kann ich sie überzeugen."

„Danke", sagte Jessie und betrat das Foyer, als Ty in einem unbekannten Raum am Ende des Flurs verschwand.

Sie konnte mehrere Minuten lang ein leises, erregtes Flüstern hören, bevor Ty schließlich seinen Kopf durch die Tür steckte.

„Kommen Sie rein", rief er. „Bitte schließen und verriegeln Sie die Tür hinter sich."

Jessie nickte, tat, was er verlangte, und machte sich dann auf den Weg durch den Flur. Als sie um die Ecke kam, sah sie Ty neben einer dunkelhaarigen Frau mit abgemagertem Gesicht und roten Augen am FrГјhstГјckstisch sitzen. Sie wirkte nicht sehr glГјcklich darГјber, einen Gast zu haben.

Hallo, Frau Ferguson", sagte sie, ihre Stimme kratzte. „Danke, dass Sie mit mir sprechen."

„Ich tue es nur, weil Ty mich darum gebeten hat. Er hat mir von der vierten Frau erzählt. Wie geht es ihr?"

„Sie wird überleben", sagte Jessie. „Sie wurde auf einem Feldweg im Griffith Park mit einem gebrochenen Bein und mehreren anderen Verletzungen gefunden. Soweit ich weiß, wird sie noch vor Ende der Woche entlassen werden."

„Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder?"

„Ich glaube nicht", sagte Jessie.

„Das ist gut. Es ist schlimm genug, das durchzumachen. Aber für den Rest der Familie war es fast genauso schlimm. Meine Tochter kommt nachts meist weinend in unser Zimmer. Mein Sohn hat angefangen, ins Bett zu machen. Ty hat alles im Griff, aber ich merke, dass er kurz davor ist, zusammenzubrechen."

„Es ist okay, Süße", sagte Ty und drückte ihre Hand. „Es geht mir gut. Und den Kindern wird es bessergehen. Du konzentrierst dich nur auf dich. Das wird dir helfen. Wenn Frau Hunt einen Weg finden kann, diesen Kerl zu schnappen, wird das allen helfen, nachts besser zu schlafen."

„Glauben Sie, dass Sie das schaffen, Frau Hunt?"

„Bitte nennen Sie mich Jessie. Und mit Ihrer Hilfe hoffe ich das."

Brenda studierte sie mit ihren erschöpften Augen und nickte.

„Kommen Sie mit mir, Jessie", sagte sie. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen."

Sie stand ohne ein weiteres Wort auf und verlieГџ den Raum. Jessie folgte ihr, blickte aber zurГјck zu Ty, der mit den Schultern zuckte. Brenda fГјhrte sie in den Flur und blieb an einem BГјcherregal stehen.

Sie streckte die Hand aus und zerrte an einem roten Buch, das hüfthoch am rechten Ende des Regals stand. Das Buch rutschte leicht heraus und schnappte dann zurück. Jessie hörte ein leises Klicken. Plötzlich schwang das Bücherregal wie eine Tür in den offenen Raum zurück.

Eine dumpfe Leuchtstoffröhre flackerte auf und enthüllte einen Raum von der Größe eines kleinen Arbeitszimmers. An einer Wand stand ein kleines Sofa, daneben zwei Holzstühle. Sie alle umgaben einen Mini-Couchtisch. In der Ecke stand ein winziger Kühlschrank.

Abgesehen von ein paar Zeitschriften und einigen MalbГјchern und Buntstiften gab es hier keine Unterhaltungsmedien. An einer Wand hing ein Schnurtelefon aus dem letzten Jahrhundert. An einer anderen Wand hing ein groГџes Poster mit dem Cover von Nirvanas Nevermind-Album, auf dem ein Baby unter Wasser zu sehen ist, das nach einer Dollarnote greift.

„Das ist cool", sagte Jessie und zeigte auf das Poster, unsicher, wie sie sonst reagieren sollte.

„Ich weiß", sagte Brenda. „Es hängt da, weil es groß genug ist, um die Öffnung zu dem Tunnel zu verdecken, den wir unter dem Haus zum Vorgarten gegraben haben.“

„Okay", antwortete Jessie, überrascht von dem faden Ton, mit dem Brenda eine so unkonventionelle Situation beschrieb.

„Ich zeige Ihnen dies, weil ich wollte, dass Sie einen Eindruck davon bekommen, wie unser Leben jetzt aussieht. Ich habe Ty dazu gebracht, diesen Panikraum bauen zu lassen, nachdem ich wieder zurück war. Ich weiß nicht, ob das in einem Notfall etwas nützt. Aber ich konnte nicht mehr als zwei Stunden am Stück schlafen, bis er fertig war."

„Ich verstehe", sagte Jessie leise.

„Verstehen Sie das?“, forderte Brenda.

„Ich verstehe es wirklich", versicherte Jessie ihr. „Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, aber ich hatte schon mehrere Stalker. Ich habe meine Wohnung renovieren lassen, um mehrere Sicherheitsmaßnahmen einzubauen, die normalerweise von Banken und Regierungseinrichtungen eingesetzt werden. Und selbst nachdem die unmittelbaren Gefahren für meine Sicherheit beseitigt waren, habe ich die Sicherheitsvorkehrungen aufrechterhalten. Ich verstehe Sie also sehr gut.“

Jessie bemerkte, dass Brenda sie zum ersten Mal so ansah, als könnte sie eine Verbündete sein.

„Es tut mir leid, dass Ihnen das passiert ist", sagte sie. „Und Sie können mich Brenda nennen."

Jessie lächelte.

„Danke, Brenda", sagte sie. Möchten Sie sich setzen?", fragte sie und nickte dem Sofa zu.

„Da drin?"

„Es könnte Ihnen helfen, sich daran zu gewöhnen“, sagte Jessie.

Brenda sah ihren Mann an, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte. Er zuckte wieder mit den Schultern.

„Ich warte in der Küche, damit Sie beide etwas Privatsphäre haben."

Nachdem er gegangen war, drückte Brenda einen Knopf an der Wand, und die Tür schwang zu und rastete ein. Sie zeigte auf einen kleinen Schalter, der ungefähr an der Stelle zu liegen schien, wo das rote Buch auf dem Regal draußen stand. Er war mit den Worten "verriegelt" und "entriegelt" gekennzeichnet.

„Diesen Schalter gibt es, damit niemand den Raum betreten kann, sobald wir drinnen sind, selbst wenn sie von dem Buch wissen", sagte Brenda.

„Solide Entscheidung", sagte Jessie. „Sonst ist es wohl kaum ein Panikraum."

Sie ergriff die Initiative, ging zum Sofa und setzte sich. Brenda schloss sich ihr an, setzte sich aber auf einen der Stühle in der Nähe.

„Also", begann Jessie, „ich weiß, dass Sie mehrmals mit der Polizei gesprochen haben. Ich habe die Akte gelesen. Ich werde also versuchen, ihre Fragen nicht zu wiederholen. Ich interessiere mich eigentlich für andere Dinge als sie."

„Wofür zum Beispiel?“, fragte Brenda, als sie nervös die Beine übereinanderschlug.

„Ich weiß aufgrund der Beschreibungen von Ihnen und der zweiten und dritten Frau, dass Ihr Entführer aufwendige Verkleidungen trug, darunter Perücken, Bärte und Masken. Ich weiß auch, dass jeder von Ihnen nach Ihrer Entführung erst einmal die Augen verbunden war. Deshalb möchte ich mich jetzt mehr auf seine Stimme konzentrieren. Erinnern Sie sich daran?"

„Ich bekomme sie nicht aus meinem Kopf", sagte Brenda, „obwohl er überhaupt nicht viel gesprochen hat".

„Können Sie deren Klang beschreiben?“, fragte Jessie. „War sie tief oder hoch? Irgendwo dazwischen?"

„Irgendwo dazwischen; es war eine normale, mittelmäßig klingende Stimme."

„Okay", sagte Jessie. „Was ist mit einem Akzent? Ist Ihnen etwas in dieser Richtung aufgefallen? Vielleicht ein Näseln? Oder ein flacherer, mittelwestlicher Akzent? Vielleicht etwas, das Sie an New York oder New England erinnerte? Hat er Wörter benutzt, die Sie hier draußen normalerweise nicht hören, wie 'Pop' statt 'Soda' oder 'ihr da' statt 'ihr alle’?"

„Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt", sagte Brenda und knirschte konzentriert mit den Zähnen. „Ich bin aus LA und er klang normal für mich, vielleicht ist er also auch von hier?"

„Das ist durchaus möglich", sagte Jessie unterstützend. „Was ist mit der Sprachwahl? Hat er viel Slang verwendet oder war sein Gebrauch eher angemessen? Klang er so, als wäre er gebildet?"

Brenda nahm sich einen Moment Zeit, um ihr Gedächtnis zu durchforsten.

„Ich erinnere mich nicht, dass er besonders ausgefallen gesprochen hätte. Aber ich erinnere mich auch nicht an viel Slang. Es war meist eine ganz normale, einfache Sprache."

„Hat er ungewöhnlich schnell oder langsam gesprochen?"

Brendas Augen leuchteten dabei auf.

„Vielleicht ein bisschen langsamer als normal", antwortete sie. „Es war, als wollte er sicher sein, dass er genau das Richtige sagte, wenn er sprach. Er war sehr bedacht. Hilft das?"

„Das könnte es", sagte Jessie. „Lassen Sie uns andere Bereiche erkunden. Ist Ihnen ein bestimmter Geruch aufgefallen?"

Brenda war ruhig und ihr Gesicht wurde rot.

„Was ist los?“, fragte Jessie sanft.

Sie dachte, die Frau wГјrde nicht antworten, aber nach einigen langen Sekunden tat sie es schlieГџlich doch.

„Um ehrlich zu sein", flüsterte sie fast: „Ich kann mich an keinen Geruch von ihm erinnern. Was immer er benutzt hat, um mich außer Gefecht zu setzen, als er mich entführt hat, hatte einen überwältigenden Geruch. Und danach konnte ich nichts Anderes mehr riechen als meinen eigenen Gestank, zuerst nach Schweiß und Körpergeruch und später nach… meinen eigenen Exkrementen."

Sie blickte nach unten und sagte nichts weiter.

„Okay, dann lassen Sie uns weitermachen", sagte Jessie schnell. „Warum reden wir nicht darüber, wie er sich allgemein verhalten hat, als Sie eingesperrt waren?"

Im Laufe der nächsten halben Stunde erfuhr Jessie, dass der Mann nie übermäßig wütend wurde, sondern immer dann gereizt war, wenn sie über ihren Mann oder ihre Kinder sprach. Sie lernte, diese nicht so schnell zu erwähnen. Er lachte nie, aber er klang glücklicher als sonst, wenn er ihr Essen und die Wasserschüssel in den Zwinger fallen ließ oder wenn er sie abspritzte.

„Meine Momente der Erniedrigung schienen ihm einen Kick zu geben", sagte Brenda. „Er sagte, sie seien Teil des 'Reinigungsprozesses'."

Danach brach sie zusammen und war nicht mehr sehr hilfreich. Jessie beendete das Gespräch frühzeitig. Als sie fertig waren, brachten die beiden Fergusons Jessie zur Tür. Brenda sah etwas besser aus als bei ihrer ersten Begegnung in der Küche. Als sie nach draußen gingen, hatte sie eine eigene Frage an Jessie.

„Könnten Sie uns vielleicht den Namen der Sicherheitsfirma nennen, die die Sicherheitsvorkehrungen in Ihrer Wohnung getroffen hat?“

„Natürlich", sagte Jessie, überwältigt von einem Gefühl des Mitleids. „Ich werde Ihnen die Informationen per SMS schicken."

Als sie zu ihrem Auto zurГјckging, machte sie sich Gedanken darГјber, wie der EntfГјhrer wohl sein mochte. Erst als sie direkt neben ihrem Auto stand, merkte sie, dass alle ihre Reifen aufgeschlitzt worden waren.




KAPITEL SIEBEN


Jessie ignorierte die plötzliche Grube in ihrem Magen und scannte den Bereich nach allem Verdächtigen ab.

Dies war eine erstaunlich unverschämte Tat, mitten am Tag, in einer ruhigen Straße in einer wohlhabenden Nachbarschaft. Wer auch immer es getan hatte, hatte offensichtlich keine große Angst, erwischt zu werden.

Nichts Offensichtliches war zu erkennen. Etwa einen halben Block die Straße hinunter stand ihr ein weißer Lieferwagen gegenüber. Aber eine Sekunde später sah sie zwei Männer dahinter hervorkommen, die ein großes Sofa zu einem nahe gelegenen Haus trugen.

Kurz danach sah sie einen Motorradpolizisten, der von einer angrenzenden Straße abbog und in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Er schien eine Standardpatrouille zu fahren. War es einfach Pech, dass er nicht in der Nähe gewesen war, als ihre Reifen aufgeschlitzt worden waren? Oder steckte mehr dahinter?

Sie hasste es, die letztere Schlussfolgerung zu ziehen, konnte aber nicht anders, als darГјber nachzudenken. Erst vor einem Monat war sie eng in einen Fall verwickelt gewesen, der einen massiven Korruptionsskandal bei der Polizei aufgedeckt hatte. Sie trug dazu bei, dass Гјber ein Dutzend Polizisten verhaftet worden waren, darunter der Leiter der Force Investigation Group des LAPD und Sergeant Hank Costabile von der Van Nuys Station des Valley Reviers.

Während ihrer Ermittlungen hatte Costabile sie und Hannah subtil und später dann auch offen bedroht. War dies die Tat eines seiner Kumpanen, der sich für seinen inhaftierten Kumpel rächen wollte? Wenn ja, warum sollten sie dann einen Monat warten und etwas so Willkürliches und Belangloses tun?

Oder war es möglich, dass dies in irgendeinem Zusammenhang mit den Entführungen stand? Hatte der Entführer das Ferguson-Haus überwacht? War dies seine Art, Jessie zu warnen? Das schien unwahrscheinlich, denn sie bezweifelte, dass er sich dort aufhalten würde. Selbst wenn er es wäre, hätte er nicht wissen können, dass Jessie in Zivil den Fall untersuchte.

Wer auch immer es war und aus welchem Grund auch immer, es änderte nichts an der Tatsache, dass sie einen Abschleppwagen brauchte. Während sie wartete, rief sie Ryan an, um ihn sowohl über ihre Befragung als auch über ihre aufgeschlitzten Reifen zu informieren. Sie ging die Einzelheiten mit ihm durch, in der Hoffnung, dass ihm etwas einfiel, was ihr fehlte.

„Es könnten auch einfach nur durchtriebene Kinder gewesen sein", schlug er in Bezug auf letzteres vor.

„Vielleicht", räumte Jessie ein. „Aber es ist mitten am Tag an einem Schultag. Selbst wenn einige Kinder die Schule schwänzen würden, würden sie durch die Nachbarschaft fahren und alle Reifen eines einzigen Autos aufschlitzen? Das fühlt sich irgendwie vorsätzlicher an."

„Wahrscheinlich hast du Recht", gab er zu. „Hattest du mehr Glück mit dem Entführungsopfer?"

„Ein wenig", sagte Jessie. „Leider wird das, was sie mir erzählt hat, erst nützlich sein, sobald wir einen Verdächtigen haben. Bis dahin ist es nicht viel. Hast du etwas gehört?"

„Um ehrlich zu sein, habe ich mich auf meine Aussage heute Nachmittag konzentriert. Wenn das nicht der Fall wäre, würde ich dich abholen."

„Das ist sehr lieb, aber nicht nötig. Es würde eine Stunde dauern, bis du hier bist, und ich habe es nicht eilig. Nachdem ich die Reifen ersetzt habe und zurück bin, muss ich nur noch die Akten des Falls Olin durchsehen.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Jessie fragte sich, was sie Falsches gesagt hatte.

„Was ist?", fragte sie besorgt.

„Nichts", sagte er. „Ich dachte nur, dass wenn du dein Auto wiederhast, es nicht mehr viel Sinn hat, reinzukommen. Decker ist zum Hauptrevier gefahren, um die Verantwortlichen für die Razzia bei der Sitte zu informieren. Er wird erst in Stunden zurück sein. Vielleicht solltest du dir den Nachmittag frei nehmen und mit Hannah ohne mich als fünftes Rad am Wagen etwas unternehmen."

„Du bist kein fünftes Rad", protestierte sie.

„Du weißt, was ich meine. Ich bin in letzter Zeit viel bei euch. Das könnte euch die Chance für ein wenig Mädchenzeit geben. Und wenn Hannah beschließen würde, dir etwas Persönliches anzuvertrauen, wäre das doch auch nicht verkehrt, oder? “

Jessie war von dem Vorschlag Гјberrascht.

„Hat sie den Eindruck gemacht, dass sie das tun will?", fragte sie und stellte sich die Frage, ob sie die Zeichen übersehen hatte.

„Haben siebzehnjährige Mädchen nicht immer etwas Persönliches, das sie für sich behalten, auch wenn sie nicht das durchgemacht haben, was sie durchgemacht hat?“

„Ja“, sagte Jessie. „Ich stelle nur sicher, dass du nicht in kryptischer Weise auf etwas Bestimmtes anspielst."

„Nein. Ich weiß nur, dass Hannah die Therapeutin Dr. Banana aufgesucht hat."

„Dr. Lemmon", korrigierte Jessie und versuchte, nicht zu lachen.

„Ah, genau. Ich wusste, dass es irgendeine Obstsorte war. Und du lässt außerdem Garland Moses ein Auge auf sie werfen."

„Du wusstest, dass er das gestern Abend war?"

„Ich bin ein sehr guter Kommissar. Außerdem hast du ihm einen bestimmten Klingelton zugewiesen und hast 'Hi, Garland' gesagt, als er angerufen hat. Also ja."

„Dann bist du also kein so guter Kommissar", neckte sie.

„Wie auch immer", antwortete er, ohne sich ablenken zu lassen, „ich dachte, sie könnte vielleicht einfach ein Gespräch mit jemandem gebrauchen, der nicht in beruflicher Funktion mit ihr spricht. Du weißt schon, jemand wie eine große Schwester?"

Jessie erkannte, dass er Recht hatte. Sie und Hannah hatten sich in letzter Zeit schockierend gut verstanden. Aber die meiste Zeit ihrer Freizeit verbrachten sie zusammen mit Ryan. Er war ein ausgezeichneter Puffer. Aber er könnte auch versehentlich verhindern, dass Hannah ihr etwas Persönliches anvertraute. Vielleicht würde eine schwesterliche Zeit sie dazu bringen, sich zu öffnen, vorausgesetzt, sie hätte überhaupt den Wunsch danach.

„Ryan Hernandez", sagte sie und fühlte sich angesichts des Zustands ihres Fahrzeugs plötzlich unerwartet munter, „du bist weder der dümmste noch der am wenigsten scharfsinnige Mensch, den ich je getroffen habe".

„Danke?"

„Du hast auch einen süßen Arsch."

Sie hörte ihn als Antwort auf etwas, wovon er gerade einen Schluck genommen hatte, husten. Da sie mit ihrer Arbeit zufrieden war, legte sie auf.


*

Hannah war sichtlich angenehm Гјberrascht, als Jessie sie direkt von der Schule abholte. Das verwandelte sich in eine groГџe Begeisterung, als sie auf dem Heimweg fГјr ein Eis anhielten.

„Warum arbeitest du nicht?", fragte sie schließlich widerwillig, als sie ihr Eis in einem Geschäft um die Ecke von der Wohnung bestellten.

„Ich bin im Moment nicht beschäftigt", sagte Jessie. „Und ich wollte etwas Zeit mit dir verbringen. Du weißt schon, ohne diesen ekligen Jungen."

„Eklig ist nicht das erste Wort, das mir in den Sinn kommt, wenn ich an deinen Freund denke", sagte Hannah.

„Vorsicht", sagte Jessie in einem spöttischen Verweis. „Wir müssen nicht jedes Gefühl miteinander teilen, sobald wir es fühlen."

Hannah lächelte, sichtlich amüsiert darüber, dass es ihr gelungen war, einige Peinlichkeiten zu verursachen.

„Ich wusste nicht, dass es den Töchtern von Serienmördern überhaupt erlaubt ist, Gefühle zu teilen", sinnierte sie.

Jessie versuchte nicht gleich zu offensichtlich auf die sich ihr darbietende Gelegenheit einzugehen.

„Technisch gesehen ist es uns nicht erlaubt", antwortete sie trocken. „Gemäß dem offiziellen Handbuch sollen wir kalte, emotionslose Automaten sein, die oberflächlich versuchen, normales menschliches Verhalten nachzubilden. Wie kommst du damit zurecht, diese Regeln zu befolgen?"

„Ziemlich gut sogar", antwortete Hannah und spielte mit. „Es scheint mir ganz natürlich zu sein. Wenn es eine Art Profiliga gäbe, wäre ich wohl ein echter Herausforderer."

„Ich auch", stimmte Jessie zu und leckte an ihrer Minz-Schoko-Chip-Tüte. „Du wärst wahrscheinlich die Nummer eins im Turnier. Ich will nicht prahlen, aber ich glaube, ich wäre selbst eine starke Zweitgesetzte."

„Soll das ein Witz sein?“, fragte Hannah, als sie eine große Portion "Rocky Road" schluckte. „Du bist bestenfalls ein Joker."

„Wie das?“, fragte Jessie.

„Du drückst Zuneigung für andere aus. Du hast echte Freundschaften. Du bist in einer echten Beziehung mit einer Person, die dir anscheinend wichtig ist. Es ist fast so, als ob du ein normaler Mensch wärst."

„Fast?", fragte Jessie.

„Nun, lass uns ehrlich sein, Jessie", sagte Hannah. „Du siehst immer noch fast jede Interaktion als eine Möglichkeit, um ein Profil dieser Person zu erstellen. Du stürzt dich in deine Arbeit, um schmerzhafte Kommunikation in deinem Privatleben zu vermeiden. Du bist wie ein Hirsch, der Angst hat, dass jeder, den er trifft, ein Jäger sein könnte, der dich erschießen will. Also, nicht ganz normal".

„Wow", sagte Jessie, sowohl beeindruckt als auch ein wenig beunruhigt über die Wahrnehmung ihrer Schwester. „Vielleicht solltest du die Profilerin sein. Dir entgeht auch nichts."

„Oh ja", fügte Hannah hinzu. „Du versuchst auch, unbequeme Wahrheiten mit abfälligen Witzen herunterzuspielen."

Jessie lächelte anerkennend.

„Touché", sagte sie. „Bedeutet all dieses Bewusstsein für unser gemeinsames verkümmertes emotionales Wachstum, dass diese Sitzungen mit Dr. Lemmon etwas Gutes bewirken?“

Hannah schenkte ihr ein Augenrollen, das darauf hindeutete, dass sie den Versuch, das Gespräch umzuleiten, für besonders ungeschickt hielt.

„Es bedeutet, dass ich mir meiner Probleme bewusst bin, nicht, dass ich unbedingt in der Lage bin, etwas dagegen zu unternehmen. Ich meine, wie lange siehst du sie schon?"

„Lass mal überlegen. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt, also fast ein Jahrzehnt", sagte Jessie.

„Und du bist immer noch ein Wrack", sagte Hannah. „Das stimmt mich nicht sehr optimistisch."

Jessie konnte nicht anders als zu lachen.

„Du hättest mich damals sehen sollen", sagte sie. „Verglichen mit der Version von mir Anfang zwanzig bin ich das Aushängeschild für psychische Gesundheit."

Hannah schien darГјber nachzudenken, als sie einen Bissen von ihrem Eis nahm.

„Du meinst also, dass ich in zehn Jahren auch einen Freund haben könnte, der nicht in meiner Liga spielt?

„Wer benutzt jetzt abfällige Sprüche, um der emotionalen Wahrheit zu entgehen?“, fragte Jessie.

Hannah streckte ihr die Zunge heraus.

Jessie lachte wieder und leckte dann noch einmal an ihrem Eis. Sie beschloss, nicht weiter zu drängen. Hannah hatte sich mehr geöffnet, als sie erwartet hatte. Sie wollte nicht, dass dies zu einem traditionellen Elterngespräch wurde.

Außerdem hielt sie Hannahs Bereitschaft, zuzugeben, wie entfremdet sie sich fühlte, für ein gutes Zeichen. Vielleicht waren die gemeinsamen Bedenken von Garland und Dr. Lemmon übertrieben. Vielleicht war ihre ständige Furcht, dass ihre Halbschwester ein embryonaler Serienmörder in der Entstehung sein könnte, wertlos. Vielleicht war das Mädchen nur ein Teenager, das durch die Hölle gegangen war und versuchte, unbeholfen nach einem Ausweg zu tasten.

Als sie Hannah dabei zusah, wie sie sich Schokoeis vom Kinn wischte, beschloss sie, das zu glauben.

Zumindest vorerst.




KAPITEL ACHT


Morgan Remar war erschöpft.

Ihr Rückflug von der Konferenz der Sozialdienste in Austin war verspätet angekommen. Sie war so müde, dass sie auf dem Nachhauseweg zusammen mit ihrem Ehemann Ari eingeschlafen war. Als sie zu Hause, im West-Adams-Bezirk in der Nähe der Innenstadt von LA, ankamen, war es nach 23 Uhr.

Sie sollte sich morgen früh mit Jessie Hunt, Kats Profiler-Freundin, treffen und wollte sich vorher eine ordentliche Nachtruhe gönnen. Natürlich war das in letzter Zeit fast unmöglich gewesen.

Seit sie vor über zwei Wochen entkommen war, wachte sie mindestens dreimal pro Nacht auf, manchmal schreiend, immer schwitzend. Sie konnte nicht aufhören, den Kiefernduft aus dem Schrank zu riechen, in dem sie fünf Tage lang gefangen gehalten worden war. Sie sprang jedes Mal auf, wenn eine Tür zuschlug oder ein Auto hupte. Sie befürchtete, dass das erneute Durchmachen ihrer Erfahrung zusammen mit Kats Freundin all das nur noch verschlimmern würde.

Als sie zu Hause ankamen, fuhr Ari in die Einfahrt. Beide stiegen nicht aus dem Auto, bis sich das Sicherheitstor hinter ihnen geschlossen hatte. Es gehörte zum Haus, als sie es vor zwei Jahren gekauft hatten, aber wie das in die Jahre gekommene Herrenhaus selbst, das sie langsam renoviert hatten, war es baufällig. Am Tag ihrer Flucht hatte Morgan, als sie sich im Krankenhaus erholte, Ari angefleht, es reparieren zu lassen. Als sie nach Hause zurückkehrte, funktionierte es reibungslos.

Es hätte für sie keine Überraschung sein sollen. Ari war der freundlichste und großzügigste Mensch, den sie je kennen gelernt hatte, das genaue Gegenteil ihres ersten Mannes, den sie ohne Schuldgefühle verlassen hatte. Schon bevor all dies geschah, war Aris Geduld mit ihrem zugegeben stürmischen Verhalten beeindruckend. Seit der Entführung war er praktisch ein Heiliger, der sie zur Therapie brachte, ihr Massagen gab, jede Mahlzeit kochte und sie einfach stundenlang in seiner Nähe hielt.

„Bist du wach?", fragte er sanft, als sie sich auf dem Beifahrersitz ausstreckte.

„Ja", sagte sie durch ihr Gähnen, „und überraschend hungrig. Die Kekse, die ich auf dem Flug bekommen haben, reichen mir einfach nicht."

„Möchtest du, dass ich dir etwas mache?", bot er an.

„Nein. Ich weiß, du bist erschöpft. Und ich bin ein großes Mädchen. Ich kann mir selbst einen Snack machen."

„Kannst du das?", neckte er leicht.

Sie blickte spielerisch finster drein, als sie aus dem Auto ausstieg und zur Seitentür des Hauses humpelte, wobei sie versuchte, auf dem großen Gips an ihrem linken Bein zu balancieren. Sie tat so, als würde sie nicht darüber nachdenken, denn das bedeutete auch, dass sie sich daran erinnern würde, warum sie ihn hatte. Und sie wollte sich nicht daran erinnern, wie sie die hölzerne Schranktür, die ihr Entführer unsachgemäß verschlossen hatte, zertrümmert hatte. Sie wollte nicht noch einmal die Erinnerung daran erleben, wie ihr linker Knöchel hörbar knackte, als er sich bei diesem letzten Schlag, der die Schranktür öffnete, in die falsche Richtung gebogen hatte. Sie verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf.

Als Ari ihre Tasche ins Haus trug, lächelte sie vor sich hin, vielleicht zum ersten Mal seit Beginn des Tages. Es war gut, zu Hause zu sein, bei dem einen Mann, dem sie vertrauen konnte. Es war gut zu wissen, dass sie sich morgen mit jemandem treffen würde, von dem Kat sicher war, dass er die Ermittlungen vorantreiben würde.

Morgan wusste über Jessie Hunt Bescheid, noch bevor Kat sie erwähnt hatte. Die Frau hatte zwei Serienmörder überlistet, bevor sie dreißig wurde. Sie war den mörderischen Fängen ihres eigenen Mannes entkommen, der etwa hundertmal schlimmer klang als Morgans Ex. Und, zumindest in Interviews schien sie von all dem unbeeindruckt zu sein. Um ehrlich zu sein, war Morgan ein wenig von ihr fasziniert.

Aber Kat hatte ihr versichert, dass Jessie persönlich ansprechbar sei und dass sich niemand leidenschaftlicher für Gerechtigkeit für die Opfer einsetze. Also würde sie sich mit ihr treffen, auch wenn das kurzfristig schlimmere Albträume bedeuten würde.

Aber das war morgen. Jetzt brauchte sie diesen spätabendlichen Imbiss. Während sie in die Küche humpelte, ging Ari unter die Dusche. Er war Makler und hatte morgen früh um 6 Uhr ein Treffen mit dem Ostküstenteam. Er würde also einfach aufstehen, sich anziehen und früh ins Büro fahren.

Sie konnte hören, wie sich das Wasser im Hauptbadezimmer am Ende des Flurs einschaltete, als sie den Kühlschrank nach etwas Appetitlichem, aber nicht zu schwerem durchwühlte. Es gab einen in Scheiben geschnittenen Truthahn, den sie beschloss, in einer Tortilla mit etwas scharfem Senf zusammenzurollen. Das sollte ihr bis zum Morgen reichen.

Der Gedanke, morgen nach ihrem Treffen mit Jessie zur Arbeit zu gehen, erfГјllte sie mit einer Mischung aus Enthusiasmus und Furcht. Die Konferenz war gut verlaufen, und sie freute sich darauf, einige der neuen Programme umzusetzen, von denen sie erfahren hatte.

Das Obdachlosenheim in Venice, in dem sie arbeitete, war eine Hauptstütze in der Gemeinde. Aber es ging auch langsam voran, wenn es darum ging, neue Techniken zur Kontaktaufnahme mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen einzuführen. Für einen so abgefahrenen, avantgardistischen Stadtteil war das Betreuungsprogramm, das sie einsetzten, überraschend traditionell.

So energisch wie die Aussicht, etwas Neues anzubieten, war sie ebenso besorgt, an den Ort zurГјckzukehren, an den sie gebracht worden war. Morgen wГјrde ihr erster Tag zurГјck sein, nachdem sie sich in den letzten Wochen zu Hause erholt hatte.

Das Obdachlosenheim hatte einen zusätzlichen Sicherheitsbeamten eingestellt, der das Personal zwischen dem Parkplatz und dem Büro begleiten sollte. Aber Morgan war nicht bei dieser Gelegenheit entführt worden. Sie war entführt worden, als sie vom Mittagessen auf dem Rückweg vom Venice Boardwalk zum Büro war, nur wenige Schritte vom berühmten und bekanntermaßen überfüllten Muscle Beach entfernt.

Obwohl sie von vielen Leuten umgeben war, hatte anscheinend niemand viel über den Mann nachgedacht, der hinter ihr gegangen, ihr einen mit Chemikalien getränkten Lappen über ihr Gesicht gehalten und ihren bewusstlosen Körper auf den Rücksitz eines nur wenige Meter entfernt geparkten Fahrzeugs geworfen hatte.

Ohne den kleinen Jungen, der es beobachtet hatte, während seine Mutter T-Shirts an einem Freiluftstand auf der anderen Seite der Promenade kaufte, wären nicht einmal diese Details bekannt. Leider war der Junge, der erst fünf Jahre alt war, so schockiert, dass er nur beschreiben konnte, dass der Mann weiß und das Auto blau war.

Morgan versuchte, auch dieses Bild aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie hatte den Plan wiederholt mit der Direktorin des Obdachlosenheims besprochen. Sie wГјrde ihr Mittagessen ab sofort mitbringen und von nun an im BГјro essen. Sie wГјrde den Sicherheitsdienst rufen, sobald sie geparkt hatte, und der Beamte wГјrde sie an ihrem Auto treffen und sie zur EingangstГјr des Heims bringen. Am Ende des Tages das Ganze in umgekehrter Reihenfolge. Sie wГјrde die Ortungsfunktion ihres Telefons immer eingeschaltet lassen und Ari bei ihrer Ankunft am Arbeitsplatz und auf dem Nachhauseweg anrufen.

Sie hoffte, dass die Polizei mit Hilfe von Kat und Jessie Hunt diesen Kerl schnappen würde und sie zu einer Art normalem Leben zurückkehren könnte. Sie wusste, dass drei weitere Frauen die gleiche Tortur durchgemacht hatten wie sie, darunter eine, die erst gestern Abend entkommen war. Sie wollte nicht, dass noch jemand anders so leiden musste wie sie. Das morgige Treffen war der nächste Schritt, um diese Tortur zu beenden.

Als sie die Zutaten auf der Kücheninsel ausbreitete, hörte sie draußen ein lautes Klappern. Ihr ganzer Körper wurde kalt vor Angst. Sie ergriff ein Fleischermesser aus dem Messerblock auf der Insel, schaltete das Küchenlicht aus, schlich zur Seitentür und schaltete das Licht auf der Veranda ein.

Was sie sah, ließ sie vor Erleichterung aufseufzen. Ein Waschbär versuchte aggressiv, sich in einen ihrer verschlossenen Mülleimer zu zwängen. Es gelang ihm, eine Pfote in den winzigen offenen Spalt zwischen der Tonne und dem Deckel zu bekommen, aber er konnte sich nicht ganz hindurch quetschen. Als das Licht aufleuchtete, huschte sein Kopf in ihre Richtung, und sie hätte schwören können, dass sie einen Hauch von Schuldgefühlen auf seinem Gesicht sah, bevor er heruntersprang und in die Dunkelheit verschwand.

Sie lachte leise über sich selbst. Wenn ein Waschbär beim Mülldiebstahl Herzklopfen verursachen könnte, würde es eine Weile dauern, bis sie wieder zu einem annähernd normalen Leben zurückkehren könnte. Sie schaltete das Licht wieder ein und kehrte zur Kücheninsel zurück, um den Imbiss vorzubereiten.

Doch als sie das Messer niederlegte und nach dem Truthahn griff, bemerkte sie, dass die Tortilla verschwunden war.

Ich hätte schwören können, dass ich sie herausgenommen habe.

Sie wandte sich wieder dem Kühlschrank zu. Da bemerkte sie die schmutzigen Fußabdrücke von etwas, das wie ein Stiefel aussah. Weder sie noch Ari trugen Schuhe im Haus. Das kalte Gefühl der Angst, das gerade erst abgeklungen war, kehrte plötzlich zurück, als hätte sich plötzlich eine riesige, gefrorene Faust um ihren ganzen Körper geballt. Sie nahm das Fleischermesser wieder in die Hand. Als sie zum Tresen blickte, bemerkte sie noch etwas Anderes. Das kleine Gemüsemesser fehlte im Messerblock.

Sie begann, nach Ari zu rufen, als der Schatten aus der Speisekammer hinter ihr hervorschoss und seine Hand Гјber ihren Mund hielt, kurz bevor sie den Namen herausbrachte. Sie versuchte, sich zu befreien, aber er hatte ihr das GemГјsemesser bereits viermal in den RГјcken gestoГџen, bevor sie daran dachte, das Fleischermesser in seine Richtung zu schwingen.

Morgan keuchte unter der Hand, die ihren Mund bedeckte. Sie wusste nicht, ob sie den Kontakt hergestellt hatte, da der Schmerz und der Schock zu stark waren, als dass etwas Anderes durchdringen hätte können. Sie verlor den Überblick, wie oft er das kleine Messer in die weiche Haut über ihrer Hüfte rammte. Irgendwann kollabierte sie und fiel zu Boden.

Sie landete auf den Küchenfliesen und fühlte, wie ihr Schädel aufprallte. Ihre Augen waren offen, so dass sie sehen konnte, wie er das Messer mit seinen behandschuhten Händen vorsichtig auf die Insel legte. Dann beugte er sich vor und wischte über die Klinge des Messers, an dem sie immer noch festhielt. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen.

„Buße", flüsterte er ihr ins Ohr.

Obwohl sie schnell das Bewusstsein verlor, fГјhlte Morgan einen Schauer der entsetzten Erkenntnis, als sie erkannte, dass es die Stimme ihres EntfГјhrers war. Er stand wieder auf und blickte mit leichtem Interesse auf sie herab, bevor er zur SeitentГјr ging.

Kurz bevor er hinaustrat und sie hinter sich schloss, sah sie, wie er ihre Tortilla zum Mund führte und einen großen Bissen nahm. Dann schloss er die Tür und war weg. Drei Minuten später war sie es auch.




KAPITEL NEUN


Jessie war frustriert.

Sie wusste, dass sie wahrscheinlich ins Bett gehen sollte. Schließlich war es fast Mitternacht, und Ryan verbrachte die Nacht bei sich zu Hause. Aber sie war nicht müde. Sie hatte die Fallakten für alle vier Entführungen auf dem Bett ausgelegt. Als sie im anderen Zimmer Hannah lachen hörte, da diese eine Folge von Top Chef sah, versuchte sie, eine Verbindung herzustellen.

Obwohl diese Frauen viel gemeinsam hatten, bemerkte sie nichts, das Г¤hnlich genug war, um ein offensichtliches Muster zu erkennen. Alle waren Ende zwanzig bis Mitte dreiГџig. Alle waren zumindest aus der Mittelschicht, wenn nicht sogar wohlhabend, und lebten in netten Nachbarschaften. Aber damit endeten die Г„hnlichkeiten.

Keine von ihnen lebte im gleichen Stadtteil. Keine von ihnen war in der Nähe des Ortes gefunden worden, an dem sie entführt worden waren, oder in der Nähe eines der anderen Opfer. Drei von ihnen waren verheiratet, das jüngste Opfer war es nicht. Drei von ihnen waren weiß, aber das dritte Opfer, Jayne Castillo, war Latina. Eine hatte Kinder. Die anderen drei hatten keine. Zwei hatten Bürojobs, eine hatte ein Geschäft zu Hause, und eine war Hausfrau. Keines der Opfer war vorbestraft.

Sie wollte Morgan Remar etwas Positives bei ihrem Treffen am Morgen überbringen. Aber im Moment gab es nicht viel, mit dem sie weitermachen konnte. Sie hoffte, dass Morgan ihr vielleicht etwas erzählen würde, das das, was sie heute von Brenda Ferguson erfahren hatte, auf den Kopf stellen könnte.

Sie Гјberlegte, ob sie Hannah sagen sollte, dass es Zeit sei, das Licht auszuschalten, als ihr Telefon klingelte. Es war Ryan.

„Hast du mich vermisst?", fragte sie.

„Immer", sagte er. „Aber das ist nicht der Grund meines Anrufs. Mir wurde gerade ein Fall zugewiesen. Decker will, dass du mich unterstützt. Ich bin auf dem Weg. Kann ich dich abholen? Ich kann in einer Viertelstunde da sein."

„Klar", sagte sie und begann schon, die Akten aller Frauen wegzulegen. „Was ist es für ein Fall?"

„Ich weiß noch nicht viel. Nur, dass ein Mann seine Frau vor weniger als einer Stunde tot in ihrer Küche gefunden hat. Sie leben in West Adams. Sie war Ende zwanzig, man hat ihr mehrere Male ein Messer in den Rücken gerammt, bevor sie verblutet ist."

„Okay", sagte Jessie. „Wir sehen uns in 15 Minuten draußen. Das gibt mir gerade noch genug Zeit, um Hannah zu bitten, schlafen zu gehen."

„Viel Glück dabei."

„Danke. Sie schaut eine Koch Show, also werde ich es brauchen."


*

Sie fuhren um 12.35 Uhr vor dem Haus vor. Der Bereich um das Haus herum war bereits abgeriegelt und von vier Streifenwagen, einem Krankenwagen und dem Van eines Gerichtsmediziners umgeben.

Jessie und Ryan stiegen einen halben Block entfernt aus und liefen an mehreren hundert Jahre alten Villen vorbei, bis sie den Tatort erreichten. Auch dieses Haus war groß und beeindruckend, aber es war baufälliger als die anderen. Eine Plane und ein Holzstapel im Vorhof deuteten darauf hin, dass die Besitzer versucht hatten, dem abzuhelfen.

Ryan zeigte seine Dienstmarke, und ein uniformierter Beamter hob das Polizeiband an, so dass sie sich darunter durchschieben und zur Haustür gehen konnten. Sie wurden von Officer Pete Clark empfangen, einem älteren Polizisten mit einem grauen Kurzhaarschnitt und Armen wie eine He-Man-Actionfigur. Er war in der ganzen Abteilung für seine Direktheit bekannt und enttäuschte nicht.

„Wie läuft's, Pete?“, fragte Ryan, als sie ihm auf der Treppe begegneten.

„Die Dodgers waren kurz davor, zu gewinnen, als ich den Anruf erhielt, also nicht so toll. Das hat mir im Grunde den Abend ruiniert."

„Tut mir leid, dass dieser lästige Mord Ihrem Baseballspiel in die Quere gekommen ist", antwortete Ryan mit vorgetäuschter Sympathie. „Würden Sie uns bitte erklären, was hier passiert ist?"

„Kein Problem", sagte Clark, der Ryan seinen Spruch offensichtlich nicht böse genommen hatte und wechselte in einen professionellen Tonfall. „Folgen Sie mir."

Bevor sie das Haus betrat, nahm sich Jessie einen Moment Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln. Alles, was sie im Begriff war zu sehen, war ein möglicher Hinweis zu der Denkweise des Mörders. Sie verdrängte alle Gedanken an beunruhigte Halbschwestern und entführte Frauen aus ihrem Gedächtnis, als sie das Haus betrat. Als Clark sie durch den Flur führte und auf den durchhängenden, unebenen Holzboden trat, gab er ihnen ein Status-Update.

„Das Opfer ist eine neunundzwanzig Jahre alte Frau, verheiratet, ohne Kinder. Ihr Mann hatte sie gerade vom Flughafen LAX nach einer Konferenz außerhalb der Stadt abgeholt. Er ging duschen, während sie sich einen Imbiss machte. Als er zurückkam, fand er sie tot auf dem Küchenboden. Sie wurde elf Mal in den unteren Rücken gestochen. Das Essen lag noch auf der Kücheninsel, ebenso wie ein blutverschmiertes Gemüsemesser. Sie hielt ein Fleischermesser in der Hand. Es sieht aber nicht danach aus, als hätte sie eine Chance gehabt, es zu benutzen.“

Sie kamen in der KГјche an, wo ihnen ein anderer Offizier PlastiktГјten zum Гњberziehen der Schuhe reichte. Jessie konnte das Opfer mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden auf der anderen Seite der Insel liegen sehen. Ihr Kopf war von ihnen weg in Richtung der TГјr gerichtet. Sie hatte einen riesigen Gips an ihrem linken Bein. Der Gips war mit Blut bespritzt.

„Wir haben einige Stiefelspuren auf dem Boden gefunden, die zur Einfahrt hinausführen", fügte Clark hinzu. „Der Ehemann sagt, sie hätten im Haus nie Schuhe getragen, deshalb lassen wir sie testen – bisher ohne Ergebnisse. Die Spusi meinte auch, dass der Griff des Messers sauber abgewischt wurde, so dass sie nicht optimistisch sind, etwas darauf zu finden.“

„Wer ist das Opfer?“, fragte Ryan.

„Das ist das Verrückte daran", antwortete Clark. „Sie war eine der entführten Frauen, die kürzlich entkommen sind. Ihr Name ist Morgan Remar."

Jessie griff unfreiwillig nach dem TГјrrahmen, um sich festzuhalten. Ryan blickte sie so schockiert an, wie sie sich fГјhlte.

„Sind Sie sicher?", fragte er Clark.

„Ja. Ihr Mann sprach davon, dass sie sich endlich wohl genug fühlte, um morgen zum ersten Mal seit dem Vorfall wieder zur Arbeit zu gehen. Es ist eine verdammte Schande."

Als sie sicher war, dass sie alleine stehen konnte, ging Jessie um die Insel, bis sie das Gesicht des Opfers deutlich sehen konnte. Selbst mit ihrem blassblauen Gesicht und ihren glasigen, ausdruckslosen braunen Augen erkannte Jessie sie als die Frau auf den Aktenfotos, obwohl ihr hellbraunes Haar, das im Krankenhaus geschnitten worden war, jetzt viel kГјrzer war. Dennoch war es die gleiche Frau, die sie morgen treffen sollte.

„Irgendwelche Anzeichen eines Raubüberfalls?“, fragte sie leise und war überrascht, ihre eigene Stimme zu hören. „Wurde etwas gestohlen? Wertsachen? Ihre Handtasche?"

„Bis jetzt nichts", sagte Clark.

„Wo ist der Ehemann?“, fragte Ryan.

„Er ist im Schlafzimmer. Er war ziemlich erschüttert, sah für mich wie unter Schock aus. Die Sanitäter wollen ihn ins Krankenhaus bringen, aber er will erst gehen, sobald sie ihre Leiche weggebracht haben. Er sagt, er kann sie nicht hier zurücklassen."

„Wissen wir, ob er vorbestraft ist?“, fragte Ryan.

Jessie meldete sich, bevor Clark es konnte.

„Ist er nicht", sagte sie. „Er wurde während einer Kneipenschlägerei in der Nähe des Campus verhaftet, als er an der UCLA studiert hat. Aber die Anklage wurde später fallen gelassen."

„Woher wissen Sie das, Hunt?“, fragte Clark fassungslos.

„Ich berate eine befreundete Privatdetektivin in einem Entführungsfall", sagte sie. „Ich habe Morgans Akte tatsächlich erst heute Abend gelesen. Ich weiß alles über die Ausbildung der beiden Remars, wie sie sich kennen gelernt haben, wann sie geheiratet haben, wie lange sie schon in ihrem Beruf tätig sind. Ich wusste sogar, dass sie in West Adams lebten. Ich hatte nur noch nicht die Verbindung hergestellt."

„Warum solltest du auch?“, fragte Ryan. „Ich meine, wie groß war die Chance, dass es das gleiche Opfer sein würde?"

„Das ist eine Frage, der wir nachgehen sollten", murmelte Jessie vor sich hin.

„Was wollen Sie damit sagen?“, fragte Clark skeptisch. „Dass derselbe Typ, der sie entführt hat, zurückgekommen ist, um seinen Job zu beenden? Nach dem, was ich gesehen habe, scheint das nicht seine Art zu sein."

„Sie haben Recht", gab Jessie zu. „Das tut es nicht. Es könnte nur ein schrecklicher Zufall sein.“

„Oder vielleicht", fügte Ryan hinzu, „könnte es sein, dass Herr Remar die Situation ausgenutzt hat, um seine Frau loszuwerden. Mit ihrer Entführung hätte er die perfekte Möglichkeit, den Verdacht anderswo zu schüren. Wir sollten mit ihm reden, bevor zu viel Zeit vergeht".

„Machen Sie das", sagte Clark. „Die Leiche wird frühestens in zwanzig Minuten entfernt. Da er nirgendwo hingehen wird, ehe das passiert, haben Sie die perfekte Gelegenheit dazu."

Er führte sie in Richtung des Schlafzimmers, wo Ari Remar gebückt, mit dem Kopf in seinen Händen, auf seiner Bettseite saß. Er hatte eine Glatze und hatte beschlossen, sie nicht zu verstecken, sondern sie einfach zu rasieren, so dass oben und am Hinterkopf kleine Stoppel zu sehen waren. Er sah zerbrechlich und erbärmlich aus in seinem weißen T-Shirt und den Shorts – den Kleidern, die er offenbar nach der Dusche angezogen hatte.

Jessie stellte sich vor, wie er in die KГјche ging, in der Hoffnung, seine Frau nach einem langen Tag ins Bett zu locken und sie vor ihrem ersten Arbeitstag zu beruhigen. Doch dann kam ihr ein anderes Bild in den Sinn, eines, das sie nicht ignorieren konnte. Sie wandte sich an Clark.

„Hat schon jemand die Dusche überprüft?", fragte sie.

„Was meinen Sie?", fragte er.

„Hat die Spusi schon überprüft, ob es auf dem Duschboden, im Rost oder in den Rohren darunter Blutrückstände gibt?“

„Ich werde dem nachgehen", sagte Clark.

„Bitte", bestand sie darauf. „Ich nehme an, sie überprüfen auch den Müll, um zu sehen, ob sich darin verschmutzte Kleidung befindet."

„Bin schon dabei", sagte Clark und verschwand, um den stellvertretenden Gerichtsmediziner am Tatort zu fragen.

Jessie sah zu Ryan hinüber, der nickte. Nachdem sie so viele Fälle gemeinsam bearbeitet hatten, wusste er, was sie als Nächstes tun würde. Sie gingen hinüber zu Ari Remar, der seit ihrem Eintritt weder gesprochen noch sich bewegt hatte. Die Sanitäterin, die neben ihm saß, eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, sah zu ihnen auf und schüttelte den Kopf. Ryan ignorierte sie und ging vor dem Mann in die Hocke.

„Hallo, Herr Remar", sagte er beruhigend. „Ich bin Kommissar Hernandez vom LAPD. Ich hatte gehofft, Ihnen ein paar Fragen stellen zu können."

Remar hob langsam den Kopf. Es war Jessie sofort klar, dass er in irgendeiner Weise medikamentös behandelt worden war. Seine Augen waren trübe, und ein dünner Speichelstrom lief ihm langsam das Kinn hinunter.




Конец ознакомительного фрагмента.


Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/pages/biblio_book/?art=63590636) на ЛитРес.

Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.



Если текст книги отсутствует, перейдите по ссылке

Возможные причины отсутствия книги:
1. Книга снята с продаж по просьбе правообладателя
2. Книга ещё не поступила в продажу и пока недоступна для чтения

Навигация